Der Kirschbluetenmord
Bahn: Trauer und Hilflosigkeit, Wut und Entsetzen ließen ihn am ganzen Körper heftig zittern, obwohl es warm im Zimmer war. Sano preßte die Zähne zusammen und spannte die Muskeln an, um sich dagegen zu wehren. Vergeblich. Der Holzfußboden bebte, so heftig war der Anfall. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als das Zittern nachließ. Sanos Körper war vor Erschöpfung wie ausgelaugt, doch sein Verstand war hellwach und arbeitete messerscharf.
Ohne den Beweis dafür zu haben – aber auch ohne jeden Zweifel –, wußte Sano, daß der Mann, der ihn auf der Reise beobachtet hatte, der Mörder Tsunehikos und des Wirtssohnes war. Aber warum hatte der Unbekannte sie getötet?
Die Antwort kam von einem ruhigen, stillen Ort tief in Sanos Innern: Er, nicht Tsunehiko, hatte das Mordopfer sein sollen. Nur der glückliche Zufall, daß Sano erwacht war, und seine schnellen Reflexe hatten ihn vor einem Mörder bewahrt, der sie zur Vorsicht beide hatte töten wollen, dabei aber zuerst den falschen Mann ermordet hatte. Und warum? Auch darauf wußte Sano die Antwort: Er kam der Lösung des Rätsels um die Morde an Yukiko und Noriyoshi immer näher; deshalb wollte irgend jemand ihn aufhalten. Aber wer?
Der junge Fürst Niu? Oder einer der zahllosen Gefolgsleute des Niu-Klans, der den unliebsamen yoriki auf Geheiß eines Familienmitglieds ermorden sollte? Oder der intelligente Kikunojō mit seiner Vorliebe für Maskeraden und Verstellungen? Oder Raikō, der unberechenbare, gewalttätige Koloß mit der riesigen Körperkraft? Keinen von ihnen konnte Sano als Täter ausschließen. Oder war es ein unbekannter Spion gewesen, der Magistrat Ogyū und Fürstin Niu von Sanos Aktivitäten berichtet und daraufhin den Mordbefehl erhalten hatte?
Mit einer Art trübseliger Befriedigung ließ Sano sich alle diese Fragen durch den Kopf gehen. Er wollte den Beweis erbringen, daß Noriyoshi und Yukiko ermordet worden waren. Gab es einen besseren Beweis als diesen Mordversuch? Doch alle Zufriedenheit, die Sano aus dieser Erkenntnis hätte schöpfen können, verblaßte angesichts der Schuldgefühle, die er Tsunehiko gegenüber empfand.
Er hätte den Jungen nicht der Gefahr aussetzen dürfen. Er hätte ihm zumindest den wahren Zweck der Reise deutlich machen müssen. Er hätte die Bedrohung erkennen müssen, die durch den geheimnisvollen Beobachter entstanden war, und Tsunehiko warnen, ihn irgendwie beschützen müssen.
Im Grunde genommen hätte er diese Reise gar nicht erst antreten dürfen. Magistrat Ogyū hatte ihm befohlen, die Nachforschungen einzustellen, und er hätte gehorchen sollen. Er konnte die Schuld an Tsunehikos Tod nicht Ogyū zuschieben, nur weil der Magistrat den Jungen mit auf die Reise geschickt hatte. Nein, das Blut Tsunehikos klebte an seinen eigenen Händen.
Doch Sano mußte sich eingestehen, daß er zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erwogen hatte, seine Nachforschungen einzustellen – nicht einmal, als die Verpflichtungen gegenüber seinem Vater und Magistrat Ogyū ihn vorübergehend davon abgehalten hatten. Jener Teil von ihm, der sich nach der Wahrheit sehnte, hatte die ganze Zeit gewußt, daß er weitermachen würde. Nun dachte Sano über die Alternative nach. Der Preis für die Wahrheit war zu hoch. Er durfte ihn nicht mit weiteren Menschenleben bezahlen.
Dann aber stieg wieder der brennende Wunsch in ihm auf, den Mörder vor Gericht zu bringen. Das Verlangen nach Rache überschwemmte ihn wie eine heiße Woge. Er durfte Tsunehikos Mörder nicht ungestraft davonkommen lassen. Seine Ehre verlangte nach Genugtuung und sein Geist nach der Befreiung von Trauer und Schuld.
Sanos Hand bewegte sich zur Hüfte. Langsam zog er das lange Schwert aus der Scheide und hielt es mit beiden Händen vor sich.
In dieser Haltung verharrte er regungslos für den Rest der Nacht.
16.
F
ujisawa, Hiratsuka, Ōiso, Odawara. Die Namen der Postenstationen wirbelten in Sanos Kopf wild durcheinander – ebenso wie die Erinnerungen an seine Reise durch Städte und Wälder, über Hügel und Ebenen, an Wohnhäusern und Tempeln vorüber. Sano hatte sich über den Punkt der völligen Erschöpfung hinaus angetrieben, als er sich im grauen Licht des frühen Nachmittags Hakone näherte, zwei Tage nach seinem Aufbruch aus Totsuka.
Das letzte Wegstück vor Hakone war der schwierigste und gefahrvollste Teil der Tōkaido. Hier wurde das Land gebirgig, und die Fernstraße verengte sich zu einem steilen, unebenen Pfad, der sich zwischen Kiefernwäldchen
Weitere Kostenlose Bücher