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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Felshang gehauen waren, welcher sich gleich hinter dem Hof erhob. Über diesen Gebäuden erblickte Sano einen steilen Pfad, der zu einem Bauwerk führte, das er für das Nonnenkloster hielt – ein langes, flaches Gebäude, das über den Steilhang hinausragte und von einer Balkenkonstruktion gestützt wurde.
    Wenngleich die Tempelanlage über die Jahrhunderte hinweg immer wieder instand gesetzt worden war, hatte man die fünfgeschossige Pagode in ihrem ursprünglichen Zustand bewahrt. Ihre frisch verputzten Wände erstrahlten in reinem Weiß, und die Dächer waren mit neuen, blaugrauen Ziegeln gedeckt. Die kunstvollen Holzarbeiten wurden durch leuchtende Farben hervorgehoben, die chinesischer Tradition entsprachen: die Mittelpfosten an den Fenstern waren grün, die komplizierten Bauteile der Dächer rot und gelb gestrichen. Die Glocken, die kreisförmig am hohen, schlanken Bronzeturm der Pagode angebracht waren, läuteten leise im Wind.
    Die anderen Gebäude jedoch wiesen die Zeichen fortschreitenden Verfalls auf. Der Putz bröckelte von den Wänden, die mit Moos und Flechten bewachsen waren; die Holzbalken, die Türen und die Fenstergitter waren verzogen und rissig. Geborstene Ziegel verschandelten die einst klare Linienführung der Dächer und Giebel. Sano sah keine Priester, Nonnen oder Pilger. Und falls der Beobachter ihm gefolgt war, ließ er sich nicht blicken. Der Tempel machte einen düsteren, verlassenen Eindruck.
    Sano stieg die Treppe zur Haupthalle hinauf. Die schwere Tür knarrte überlaut in der Stille, als er sie aufschob. Sano blieb im Türeingang stehen und zog sich die Sandalen aus; dann betrat er die Halle. An der hinteren Wand thronte ein riesiger Buddha auf einer Lotosblüte. Die Zeit hatte die vielarmige Bronzestatue mit einer grünschwarzen Patina überzogen. Rundum standen die kleineren, bemalten Holzfiguren der Schutzgötter: finstere Krieger mit geballten Fäusten und erhobenen Speeren. Hunderte brennender Öllampen und schwelender Weihrauchgefäße schienen diese Gottheiten mit ihrem flackernden, von Dunst getrübten Licht zum Leben zu erwecken.
    Die Flammen der Lampen und der Rauch hatten die offene Dachbalkenkonstruktion der Halle im Laufe der Jahrhunderte geschwärzt und dem Holz den moderigen, muffigen Geruch des Alters verliehen. Verblaßte Wandgemälde zeigten geisterhafte, sepiafarbene Buddhas, die von Palästen und Hügeln umgeben waren. In der hinteren linken Ecke der Halle stand eine vergoldete Statue der Kannon – Kuan-yin –, der Barmherzigkeit des Buddha in weiblicher Gestalt, zugleich eine Verkörperung aller warmherzigen Menschen, die nach dem Nirwana streben. Die Figur trug eine edelsteinbesetzte Krone und einen flammendhellen Heiligenschein.
    Sano warf eine Münze in den Opferstock, der auf einem Pfahl in der Nähe des Altars stand. Er schloß die Augen, senkte den Kopf über den gefalteten Händen und sprach stumme Gebete: für die Seele Tsunehikos; für die Genesung seines Vaters; daß Wisteries Trauer enden und seiner Mission Erfolg beschieden sein möge.
    Das Rascheln von Umhängen, die über den Boden schleiften, riß Sano aus seiner Andacht. Er drehte sich um und sah sich einer hochgewachsenen, schlanken Nonne in schwarzer Robe und Schleier gegenüber. Ihr Alter war nicht zu schätzen; sie konnte zwischen dreißig und sechzig sein. Die Frau hatte ein blasses, ernstes Gesicht und eine hohe Stirn. Ihre langen Finger spielten mit einem Rosenkranz, der an ihrer Schärpe hing.
    »Willkommen, ehrenwerter Pilger«, sagte sie und verbeugte sich. »Ich bin die Äbtissin des Tempels der Kannon. Ich wäre hocherfreut, Euch die Geschichte dieses Tempels erzählen zu dürfen.« Sie wartete Sanos Antwort gar nicht erst ab, sondern fuhr fort: »Der Tempel wurde während der Heian-Periode erbaut, vor ungefähr achthundert Jahren, und …«
    Ihre Redeweise und die geübte Stimme verrieten, daß die Äbtissin diesen Vortrag schon viele Male gehalten hatte. Ihr salbungsvoller Tonfall ließ Sano erkennen, daß sie – wie viele andere religiöse Führungspersönlichkeiten – darauf bedacht war, sich bei den Mitgliedern der Kriegerkaste lieb Kind zu machen; denn die Samurai unterstützten diese Tempel.
    »Zur Zeit ist der Kannon-Tempel das Heiligtum für zwanzig Nonnen, die dem weltlichen Leben entsagt haben, um geistige Erleuchtung zu suchen. Wenn Ihr mich nun begleitet, werde ich Euch etwas über die Bilder erzählen, die Ihr hier sehen könnt.«
    Sano verbeugte sich. »Verzeiht,

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