Der Kirschbluetenmord
auch schon nach draußen stürmte. Der Mörder – war er der geheimnisvolle Beobachter? – war ohne Schwierigkeiten ins Zimmer eingedrungen und hatte Tsunehiko getötet. Aber der Kerl würde nicht entkommen! Ein übermächtiges Verlangen nach Rache stieg in Sano auf. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht gewußt, daß er zu solchen Haßgefühlen überhaupt fähig war. Er wollte Blut für Blut. Er wollte den Zorn der Götter herabbeschwören. Barfuß, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, stolperte er durch die frostige Finsternis des Gartens. Mit dem Schwert hieb und schlug er sich blind den Weg frei.
»Stehenbleiben, du Mörder!« brüllte er.
Wie als Antwort erklangen Hufschläge. Jemand galoppierte aus dem Dorf hinaus in die Dunkelheit.
»Bleib stehen, du Schuft!«
Lichter flammten in den Zimmern der Herberge auf, als Sano vorüberstürmte. Er hörte, wie andere Gäste die Fenster aufrissen, und verärgerte Stimmen riefen laut: »Was ist denn los? Wer schreit denn da?«
Wo ist der Nachtwächter, schoß es Sano durch den Kopf. Da es dem Mann nicht gelungen war, den Eindringling aufzuhalten, hätte er mit seinen Rasseln längst Alarm geben und die Wachen an der Kontrollstation sowie die Dorfpolizei herbeirufen müssen.
Sano stellte fest, daß niemand sich in den Schatten vor den Gästequartieren verborgen hielt. Dann, als er wieder zurück durch den Garten rannte, stieß er mit dem Fuß gegen irgend etwas Schweres, Großes. Er stolperte und stürzte bäuchlings zu Boden, prallte aber nicht auf die harte, kalte Erde, sondern auf etwas Weiches und Warmes. Vor Schreck stieß er scharf den Atem aus. Jemand kam mit einer Laterne herbeigeeilt und fing zu schreien an, kaum daß er Sano erreicht hatte.
Verdutzt blickte Sano auf und sah eine alte Frau über sich stehen. Ihr Gesicht war verzerrt und schmerzerfüllt.
»Jihei!« kreischte sie. »Mein Sohn!« Sie brach in heftiges Schluchzen aus.
Sano schaute auf das Etwas, über das er gestolpert war, und erkannte augenblicklich, weshalb der Nachtwächter keinen Alarm gegeben hatte. Gorōbeis Sohn lag regungslos auf dem Rücken. Die Augen waren ihm weit aus den Höhlen getreten. Leblos starrten sie ins Nichts, doch immer noch spiegelten sich Schmerz und Entsetzen darin. Die Zunge ragte zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor und war blutig gebissen, und an Hals und Kehle waren dunkel verfärbte Druckstellen zu erkennen. Der junge Mann war tot – erwürgt, wahrscheinlich von demselben Täter, der Tsunehiko getötet hatte. Sano schloß die Augen, als eine neuerliche Woge betäubenden Entsetzens und heißer Wut über ihn hinwegflutete. Die Schluchzer der Frau waren wie ein Widerhall seiner eigenen Seelenqual. Er hörte schnelle Schritte und Männerstimmen, schlug die Augen auf und sah die anderen Gäste, die in der Herberge Quartier genommen hatten – die Samurai und die Priester. Sie hatten sich um Sano geschart.
»Bleibt bei ihr«, befahl Sano den Priestern und zeigte auf die verzweifelte Frau. Zu den Samurai, die mit schläfrigen, rot geäderten Augen auf den Toten starrten, sagte er: »Kommt mit! Wir müssen den Mörder fangen!«
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, rannte Sano zu den Ställen. Die Samurai – allesamt rundlich vom bequemen Leben und noch immer benommen vom reichlich genossenen Sake – nahmen die Herausforderung an. Keuchend, mit stampfenden Schritten und wippenden Schmerbäuchen, folgten sie Sano, die Hände an den Schwertern.
Obwohl Sano und seine Helfer das gesamte schlafende Dorf sowie die Fernstraße in beiden Richtungen und zu beiden Seiten absuchten, entdeckten sie niemanden. Der Mörder war spurlos verschwunden, als wäre er mit der Nacht verschmolzen.
Die nächsten Stunden vergingen mit quälender Langsamkeit. Sano ertrug sie mit äußerlicher Ruhe und aller Selbstbeherrschung, die er aufbringen konnte. Er berichtete dem trauernden Besitzer der Herberge, daß nicht nur sein Sohn, sondern auch ein Gast ermordet worden war. Er meldete die Morde bei den Wachen an der Kontrollstation, die daraufhin die Polizei, die Ältesten und den Vorsteher der Dorfes zusammenriefen. Dann begaben sich alle zum Ryokan Gorōbei, um die Leichen in Augenschein zu nehmen.
»Seid Ihr ganz sicher, yoriki, daß er tot ist?« fragte der Dorfvorsteher immer wieder besorgt, während er Tsunehikos Leichnam betrachtete.
Sano wußte, daß der Tod eines Reisenden aus der Oberschicht für einen Ort wie Totsuka – zumal es hier die Kontrollstation gab –
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