Der Kirschbluetenmord
Äbtissin, aber ich bin nicht auf einer Pilgerreise hierher gekommen. Ich möchte eine Eurer Nonnen sprechen. Niu Midori.« Sano stellte sich mit Rang und Namen vor; dann fuhr er fort: »Ich bitte um Vergebung, daß ich hier eingedrungen bin, aber die Angelegenheit ist von größter Wichtigkeit.«
»Ich fürchte, es ist unmöglich, mit Fräulein Midori zu sprechen.« Der salbungsvolle Tonfall war verschwunden; jetzt klang die Stimme kalt. »Wie ich schon erklärte, haben unsere Nonnen allen irdischen Dingen entsagt. Sie scheuen jeden Kontakt mit der Außenwelt. Besonders unsere Novizinnen müssen sich streng an die Regel vollkommener Abgeschlossenheit halten. Ihr könnt weder jetzt noch sonstwann mit Fräulein Midori sprechen. Ich bedaure, daß Ihr den weiten Weg umsonst gemacht habt.«
Es war eine Aufforderung, das Kloster zu verlassen – mit dem Beiklang der Endgültigkeit. Sanos ohnehin betrübte Stimmung verdüsterte sich noch mehr.
»Bitte, ehrenwerte Äbtissin«, sagte er. »Ich verspreche Euch, nicht lange mit Midori zu reden oder mich gar in Glaubensfragen einzumischen.«
Hatte die Äbtissin von Fürstin Niu den Befehl erhalten, alle Besucher von Midori fernzuhalten? Oder galt ein solcher Befehl nur für ihn, Sano? Doch er hatte kein Zeichen des Erkennens auf dem Gesicht der Äbtissin gesehen, als er seinen Namen genannt hatte. »Ich möchte nur ein paar Augenblicke mit ihr allein sprechen. Mehr nicht.«
Die Äbtissin schwieg.
»Anschließend«, fuhr Sano fort, »werde ich dem Tempel der Kannon eine kleine Gabe zukommen lassen.« Er wußte, daß die Priesterschaft stets begierig auf Spenden war.
Statt zu antworten, wandte die Äbtissin sich um und klatschte zweimal in die Hände. Die Tür flog auf. Zwei Priester in orangefarbenen Roben kamen in die Halle: große, muskulöse Männer mit Speeren in den Fäusten.
»Ich wünsche Euch noch einen guten Tag, Herr«, sagte die Äbtissin zu Sano. »Möge Buddha Euch in seiner göttlichen Gnade eine sichere Heimreise gewähren.«
Sano hatte keine Wahl. Er mußte sich von den Priestern hinausführen lassen. Er wußte um die sagenhaften Fertigkeiten der Bergmönche, was den Kampf mit und ohne Waffen betraf; seit Jahrhunderten führten sie Kriege sowohl gegen die herrschenden Sippen als auch untereinander. Sano bettelte und bat die Mönche und versuchte sogar, sie zu bestechen, ihn zu Midori zu führen, doch sie sagten kein Wort, und ihre Mienen blieben unbewegt. Sie führten Sano bis zum Tor, blieben dort stehen und sahen zu, wie er den Pfad hinunterstieg.
Als Sano außer Sichtweite war, schleuderte er seinen Gehstock zu Boden, ließ sich auf die Knie fallen und starrte über die Baumwipfel auf das Dorf und den See hinunter. Er versuchte, Kraft genug zu sammeln, um den steilen Berghang hinabsteigen zu können. Bald würde die Nacht hereinbrechen; mit der Abenddämmerung war die Luft bereits merklich kälter geworden. Wartete Sano zu lange, bestand die Gefahr, sich zu verletzen, falls er den trügerischen Pfad im Dunkeln hinabzusteigen versuchte; er konnte sogar in den Tod stürzen oder erfrieren, sollte er vom Weg abkommen. Doch Sanos Verzweiflung, vereint mit der Erschöpfung, behielt die Oberhand. Er verharrte, statt sich an den Abstieg zu machen.
Die Reise hatte zu nichts geführt; Tsunehiko war umsonst gestorben. Sano war der Aufdeckung des Geheimnisses um die Morde an Yukiko und Noriyoshi keinen Schritt näher gekommen, seit er Edo verlassen hatte. Wie sollte er mit seinem Versagen und den tragischen Folgen seines Tuns weiterleben?
Steh auf, trieb er sich an. Heb den Gehstock auf, setze einen Fuß vor den anderen, und …
Sanos Kopf fuhr herum, als er das Geräusch schneller Schritte vernahm, die auf dem Tempelgelände über ihm erklangen. Die Priester! Die Hand am Schwert, sprang Sano auf, getrieben vom Instinkt des Samurai, sich jedem Feind zu stellen und zu kämpfen. Dann aber gemahnte ihn der gesunde Menschenverstand, daß er es mit mindestens zwei kampferprobten Gegnern zu tun bekommen würde, so daß er kaum eine Chance besaß. Wollte er überleben, mußte er verschwinden, bevor die Verfolger ihn entdeckten. Sano packte den Gehstock und eilte den Pfad hinunter.
»Yoriki! Wartet!«
Als Sano die hohe, weibliche Stimme hörte, blieb er abrupt stehen. Er wandte sich um und sah eine kleine Gestalt, die hinter ihm den Hang hinunterschlitterte. Als sie Sano erreichte, stolperte sie und wäre gestürzt, hätte er sie nicht festgehalten. Sano blickte
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