Der Kirschbluetenmord
und wer ist Euer Vorgesetzter?«
Sano wünschte sich inständig, die Reise fortsetzen zu können, doch er durfte es sich nicht erlauben, die Beamten gegen sich aufzubringen. Sie konnten ihn noch stundenlang – oder gar tagelang – festhalten.
»Ich bin Sano Ichirō, Sohn des Sano Shūtarō, Lehrer der Waffenkünste, einst in Diensten des Fürsten Kii aus der Provinz Takamatsu«, antwortete Sano höflich.
Durch die offene Tür konnte er beobachten, wie andere Beamte den Inhalt seiner Satteltaschen auf den Fußboden des angrenzenden Zimmers leerten. Einer durchsuchte die Kleidungsstücke, während ein anderer sich eingehend den Reisepaß anschaute.
»Ich bin yoriki, ein Untergebener von Ogyū Banzan, dem Magistraten, der für den Nordteil Edos zuständig ist. Ich bin auf einer Pilgerreise nach Mishima.«
Sano rechnete damit, daß die Beamten ihn nun fragen würden, ob er in Mishima jemanden treffen wolle und um wen es sich dabei handelte. Die Aufgabe dieser Männer bestand ja vor allem darin, geheime Treffen aufzudecken, die vielleicht mit Verschwörungen gegen die Regierung zu tun hatten. Doch sie schienen das Interesse an Ziel und Zweck der Reise verloren zu haben; statt dessen fragten sie Sano eingehend nach seiner Familie aus.
»Ihr seid also yoriki Sano Ichirō aus Edo«, sagte der ranghöchste Beamte. »Wart Ihr nicht in die Morde verwickelt, die vorgestern in Totsuka verübt wurden?«
Sano war erstaunt, wie schnell das Netzwerk der Tokugawa-Spitzel Nachrichten über die Tōkaido weiterleiten konnte. Geduldig beantwortete er die Fragen über die Morde, wenngleich er vermutete, daß die Beamten die meisten Antworten bereits kannten. Schließlich, nach einer gründlichen Befragung über die Nachforschungen in Totsuka, ließen sie Sano gehen.
Weil der Kannon-Tempel hoch in den Bergen hinter Hakone lag, ließ Sano sein Pferd und das Gepäck in einem Gasthof zurück und machte sich zu Fuß auf das letzte Wegstück. Der Pfad war steil und gewunden; zu beiden Seiten stand dichter Fichtenwald, und die dicken grünen Äste verwehrten Sano an jeder Kehre den Blick, während er höher und höher stieg. Immer wieder bedeckten große, gefährlich glatte Eis- und Schneeflächen den Boden. Sano entdeckte einen toten Ast und benutzte ihn als Gehstock, während er sich den Pfad hinaufkämpfte, von einer trittsicheren Stelle zur nächsten. Die Nius hatten Midori gewiß Diener mitgeschickt, um ihr die Reise zu erleichtern; dennoch mußte es eine Strapaze für das Mädchen gewesen sein.
Je höher Sano stieg, desto heftiger und unangenehmer wurden der Wind, die Kälte und die Nässe. Winzige Eissplitter peitschten ihm ins Gesicht. Sano kam sich vor, als befände er sich hoch in den Wolken. Sein Herz raste vor Anstrengung, und seine Lungen schmerzten.
Doch Sanos Entschlossenheit, den Mörder zu fassen und Tsunehikos Tod zu rächen, trieb ihn weiter. Er hoffte nur, daß die Reise alle diese Mühen wert war. Als er eine Rast einlegte, stellte er fest, daß er sich bereits hoch über Hakone befand; das Dorf, der See und die Berge breiteten sich unter ihm aus, von einem dünnen Nebelschleier bedeckt. Ein plötzliches Schwindelgefühl ließ Sano schwanken, und rasch stützte er sich auf seinen Gehstock. Nachdem er wieder ein wenig zu Kräften gekommen war, setzte er seinen Aufstieg fort.
Mit einem mal, als er bereits seine letzten Kraftreserven mobilisiert hatte, gelangte er auf eine ebene Lichtung. Die umstehenden Kiefern verdunkelten den Himmel und sorgten für ein verfrühtes Dämmerlicht. Als Sanos Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erblickte er einen Tempel, der vor mehr als tausend Jahren erbaut worden sein mochte – zu jener Zeit, als der Buddhismus gerade erst nach Japan vorgedrungen war.
Ein großes freistehendes Tor mit doppeltem Ziegeldach, das auf acht massiven Pfeilern stand, bildete den Eingang. Sano durchschritt dieses Haupttor, dann ein kleineres im Innern der Tempelanlage und gelangte schließlich auf einen Hof, dessen Boden mit steinernen, erloschenen Laternen übersät war. Zu seiner Rechten befand sich die Haupthalle; düster und bedrohlich stand sie auf ihrem hohen steinernen Fundament. Zur Linken erblickte Sano eine Pagode sowie den hölzernen Käfig, in dem sich die Tempelglocke befand. Mehrere Gedenksteine umschlossen den Friedhof. Die Lesehalle, das kleine Heiligtum, in dem die Sutras aufbewahrt wurden, sowie die Lagerschuppen für die Lebensmittel standen auf großen Gesimsen, die in den
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