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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Arbeit, Ärger und Kosten nach sich zog: Berichte mußten erstellt und an die Zentralverwaltung der Tōkaido in Edo geschickt werden; es mußten Untersuchungen angestellt und Befragungen vorgenommen werden; die nächsten Verwandten des Toten mußten verständigt werden, und man mußte die notwendigen Schritte für die Überführung des Leichnams in die Heimat oder die Kremation in die Wege leiten. Doch angesichts der idiotischen Frage des Dorfvorstehers, ob Tsunehiko wirklich tot sei, verlor Sano seine mühsam bewahrte Beherrschung.
    »Natürlich ist er tot!« fuhr er den Vorsteher an und warf sich den Umhang über, denn die Kälte ließ ihn schaudern. »Glaubt bloß nicht, daß Ihr ihn in einen kago stecken könnt, um ihn ins nächste Dorf bringen zu lassen, damit er dort angeblich von anderer Hand stirbt, nur damit Euch die Arbeit erspart bleibt!«
    Der Dorfvorsteher starrte Sano mit offenem Mund an, erstaunt darüber, daß der yoriki seine Gedanken gelesen hatte. Dann runzelte er die Stirn. »Und woher sollen wir wissen, daß Ihr ihn nicht selbst ermordet habt?«
    »Es war kein Raubmord«, kam einer der Dorfältesten Sano zu Hilfe. Der Mann hatte den Wandschrank geöffnet und dessen Inhalt durchsucht. »Seht, das Geld ist noch da.« Er hielt Sanos und Tsunehikos Geldbeutel hoch.
    Sano hatte geahnt, daß die Behörden ihn verdächtigen würden, der Mörder zu sein. »Schaut euch meine Waffen an«, sagte er. »Es ist kein Blut daran. Außerdem – wenn ich meinen Reisebegleiter hätte ermorden wollen, dann hätte ich es bestimmt nicht auf unserem gemeinsamen Zimmer getan. Wäre ich der Mörder, hätte ich mich davongeschlichen, anstatt die Kontrollstation zu alarmieren. Ich hätte weder den Nachtwäch ter töten noch die Tür aufbrechen müssen.
    Wenn wir den wirklichen Täter fassen wollen, müssen wir Suchtrupps losschicken. Sie müssen die Tōkaido in beiden Richtungen absuchen und so weit wie möglich ins Landesinnere vordringen. Jetzt sofort. Bevor der Mörder einen zu großen Vorsprung gewinnt.«
    Glücklicherweise griff niemand mehr die Mordtheorie des Dorfvorstehers auf. Sano vermutete, daß dies nicht so sehr auf seine Darlegungen zurückzuführen war, sondern auf seinen Status als yoriki. Nun aber ergab sich ein weiteres Problem: Die Versammelten zögerten ihre Entscheidung über die Entsendung von Suchtrupps so lange heraus, daß Sano, der Verzweiflung nahe, bald nicht mehr daran glaubte, den Mörder jemals zu erwischen. Drei der Dorfältesten wollten bis zum Tagesanbruch warten; es wäre noch so dunkel, erklärten sie, daß eine Suche zum jetzigen Zeitpunkt sinnlos sei. Die anderen hielten es zwar für besser, die Suchtrupps sofort in Marsch zu setzen, wollten aber nicht das Risiko eingehen, hochrangige Reisende in ihrem Schlaf zu stören. Der Dorfvorsteher warf in einer Geste der Ratlosigkeit die Arme in die Höhe. Er war ein junger Mann, der sein Amt erst vor kurzem von seinem Vater geerbt hatte, und offensichtlich hatte er noch nie mit einem Mordfall zu tun gehabt. Schließlich erklärte er Sano, die Versammelten würden ihre Entscheidung so lange vertagen, bis er, als Dorfvorsteher, eingehender über die Angelegenheit nachgedacht habe.
    »Dann laßt mich die Suche organisieren«, bat Sano. »Falls ein wichtiger Gast sich gestört fühlt, übernehme ich die volle Verantwortung.«
    Doch der Dorfvorsteher und die Ältesten weigerten sich. Und da Sano aus Edo kam, hatte er in Totsuka keine Amtsgewalt. Er mußte im Gasthaus bleiben; ein Wachtposten sollte dafür sorgen, daß er es nicht verließ. Außerdem mußte er eine schriftliche Erklärung abgeben und eine Vielzahl von Dokumenten unterzeichnen – genau wie jeder andere Reisende, dessen Gefährte auf der Tōkaido ums Leben kam. Zudem war seine Anwesenheit bei der Befragung erforderlich, die für den nächsten Morgen angesetzt wurde; er mußte sich um die Feuerbestattung von Tsunehikos Leichnam kümmern und versprechen, die Asche des Jungen auf der Rückreise mitzunehmen und sie in Edo seiner Familie zu übergeben.
    Schließlich ließen die Honoratioren Sano allein; er wurde in einem kargen Gästezimmer untergebracht, das ihm ein weinendes Hausmädchen der Gorōbeis hastig hergerichtet hatte. Trotz seiner Erschöpfung konnte Sano nicht schlafen. Statt dessen kniete er sich auf den Boden und beobachtete, wie die heraufziehende Morgendämmerung allmählich die dunklen Fenster erhellte. Die Gefühle, die er unterdrückt hatte, brachen sich nun gewaltsam

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