Der Kirschbluetenmord
sie fassungslos an.
Es war Midori, obwohl er sie kaum wiedererkannte. An Stelle eines hellen Seidenkimonos trug sie einen ärmlichen, weiten Umhang aus grobem Stoff. Unter dem Saum schauten die nackten Füße hervor. Sie sah kleiner aus, zerbrechlicher, als hätte sie Gewicht verloren. Ihr Gesicht wirkte blaß und ausgezehrt, die Lippen waren rissig und aufgesprungen. Die erschreckendste Veränderung aber war der kahlgeschorene Kopf. Nur ein blauschwarzer Schimmer auf der Kopfhaut erinnerte an ihr langes schwarzes Haar.
Keuchend und abgehackt stieß Midori hervor: »… habe Euch … vom Schlafsaal der Nonnen aus gesehen …« Sie legte eine Hand auf die Brust, die sich unter schweren Atemzügen hob und senkte. »… bin aus dem Fenster gestiegen … Ich wollte nicht, daß Ihr geht, ohne daß ich mit Euch gesprochen habe …«
»Beruhigt Euch. Es ist alles in Ordnung«, sagte Sano. Er zog Midori vom Pfad herunter und hieß sie, auf einem umgestürzten Baumstamm Platz zu nehmen. Sie zitterte in ihrer dünnen Kleidung; deshalb zog Sano seinen Umhang aus und legte ihn dem Mädchen um die Schultern. Dann wartete er mit wachsender Spannung, daß sie wieder zu Atem kam. Nun würde er doch noch die Informationen bekommen, um derentwillen er diese lange Reise unternommen und für die er einen so schrecklichen Preis bezahlt hatte!
Doch als Midori zu reden begann, ging es nicht um ihre Schwester oder um Noriyoshi. »Ich hasse diesen Ort!« rief sie verzweifelt und schlug mit den Fäusten auf den Baumstamm. »Kochen und Putzen und Beten – von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang! Dann ein paar Stunden Schlaf auf einer harten Strohmatte, bevor diese schreckliche Glocke mich weckt und alles wieder von vorn anfängt.« Tränen schimmerten in ihren Augen. »Wenn ich noch länger hier bleiben muß, sterbe ich. Bitte, nehmt mich mit!«
Mitleid stieg in Sano auf, doch er schüttelte den Kopf. »Das geht nicht«, sagte er. Er mußte Midori die Wahrheit sagen, auch wenn seine Weigerung sie gegen ihn aufbringen konnte.
Midori seufzte und nahm seine Worte mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern auf. »Ich weiß«, sagte sie kläglich. »Es geht nicht.« Sie hob die Hand, als wollte sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn streichen; dann zuckte die Hand zurück, als sie ihren kahlen Schädel berührte. »Die Leute meines Vaters würden Jagd auf uns machen. Euch würden sie den Kopf abschlagen, und mich würden sie hierher zurückbringen. Ich hätte Euch gar nicht erst bitten sollen. Verzeiht.«
»Wollt Ihr mir erzählen, wie Ihr hierher gekommen seid?« fragte Sano. Er wollte einen weiteren verzweifelten Ausbruch Midoris vermeiden, indem er sofort den Tod ihrer Schwester zur Sprache brachte, und er wollte die Geschichte in Midoris eigenen Worten hören, unbeeinflußt von seinen eigenen Erwartungen.
»Es ist die Strafe, die meine Stiefmutter mir auferlegt hat.« Plötzlich funkelte Zorn in Midoris Augen. »Ich hasse sie! Falls ich ihr noch einmal begegne, werde ich sie umbringen. Ich werde mir ein Schwert beschaffen und sie in hundert Stücke zerhacken. So!« Sie schwang ein imaginäres Schwert und ließ es durch die Luft sausen. »Ich möchte keine Nonne sein. Ich möchte wieder in Edo wohnen. Ich will Feste besuchen und ins Theater gehen. Ich möchte bei meinen Geschwistern sein, meine schönen Kleider tragen, meine Puppen zurückhaben und …« Sie verstummte, brach in heftiges Schluchzen aus und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
»Hat Euer Vater keinen Einfluß auf diese Entscheidung?« fragte Sano. Er wußte, daß es viele Männer kaum interessierte, ob ihre Töchter glücklich waren oder nicht; aber er hätte nicht damit gerechnet, daß Fürst Niu eine seiner Töchter ohne jeden Widerstand in ein Kloster schicken ließ. Wenn er Midori mit einem jungen Mann aus einer anderen mächtigen Fürstenfamilie verheiratete, konnte er viel mehr Kapital daraus schlagen. So aber verzichtete er auf jede Möglichkeit, durch die Heirat Midoris mit dem Sohn eines anderen Daimyō ein politisches Bündnis zu schmieden; zudem mußte er Midoris Mitgift dem Kloster zukommen lassen.
Midori hob den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.
»Solange ich lebe, habe ich meinen Vater kaum zu Gesicht bekommen. Außerdem läßt er meiner Stiefmutter freie Hand, den Haushalt zu führen. Das kann sie tun, wie es ihr gefällt. Genauso, wie Vater meine älteren Brüder in den Provinzen gewähren läßt, die von ihnen
Weitere Kostenlose Bücher