Der Kirschbluetenmord
Strauch vorüberkamen, konnte Sano einige Satzfetzen aufschnappen:
»Ich bin froh, wenn ich zurück nach Edo komme. Hier ist es mir zu ruhig.«
»Aber nicht heute nacht«, erwiderte der andere Samurai, und Gelächter erklang.
Was meinten die beiden damit? Sano wartete, bis er sie mit den Posten am Tor reden hörte. Dann eilte er in die Richtung, aus der die beiden Samurai gekommen waren. Falls es zusätzliche Patrouillen gab, waren sie gewiß um das gesamte Anwesen herum verteilt. Sano folgte der Krümmung der Mauer, bis er das Tor und die Straße nicht mehr sehen konnte. Er hielt inne, um zu lauschen und sich umzuschauen. Die Beobachtungstürme, die in regelmäßigen Abständen entlang der Mauer standen, waren unbemannt. Der Wald schien menschenleer zu sein, und zwischen den Bäumen wurde es dunkler, da das Tageslicht allmählich zu schwinden begann. Nur das stete Tropfen des Regenwassers von den Zweigen der Bäume klang laut in der Stille. Langsam schlich Sano bis an die Mauer heran.
Sie war aus Lehm, mit flachen Steinen verkleidet, die ohne Mörtel zusammengefügt waren. Hoch ragte sie über Sano auf. Er begab sich auf eine gefährliche Kletterpartie, denn seine Finger und Zehen fanden in den Spalten zwischen den Steinplatten kaum Halt. Sein Strohumhang raschelte, und Sano stöhnte bei jedem Geräusch leise auf. Schließlich zog er sich auf die Mauerkrone, blieb flach darauf liegen und schaute zur anderen Seite der Mauer hinunter. Wieder erblickte er ein Waldstück, ähnlich dem, aus dem er soeben gekommen war – eine natürlich wirkende, aber künstliche Zusammenstellung aus immergrünen Pflanzen, Laubbäumen und Sträuchern. Auch in diesem Waldstück schien sich niemand aufzuhalten.
Sano wartete einen Moment und schaute sich ein weiteres Mal aufmerksam um. Als er keinen Wächter sah, ließ er sich über die Mauerkrone rutschen und in die Tiefe fallen. Wieder raschelte sein Strohumhang, als er auf dem weichen Boden landete. Hastig riß er sich den Umhang vom Leib und versteckte ihn unter einem Haufen abgestorbener Blätter. Es hatte fast zu regnen aufgehört, und Sanos dunkle Hose und der Stoffumhang verschafften ihm in der hereinbrechenden Dämmerung eine bessere Tarnung.
Er stand auf und bewegte sich in Richtung Tor. Ein gewundener Pfad führte durch das malerische Waldstück; wahrscheinlich hatte man ihn angelegt, um den Damen des Daimyō einen stimmungsvollen Spaziergang zu ermöglichen. Der Pfad endete am Rande einer Lichtung. Ein Stück voraus sah Sano einen Gehweg, der mit weißem Kies bedeckt war und vom Tor wegführte. Sano blickte den Gehweg entlang und entdeckte auf der linken Seite in einiger Entfernung einen Gebäudekomplex. Augenblicklich hatte er das Gefühl, weit in der Zeit zurückgereist zu sein.
Die Sommervilla der Nius war in einer Bauweise errichtet, die vor ungefähr achthundert Jahren üblich gewesen war. Von Bäumen beschattet, stand die Villa auf einer kleinen Erhebung. Das große Haupthaus oder shinden zeigte nach Süden. Es war ein kastenförmiges, hölzernes Gebäude mit Schindeldach, das auf Stützpfeilern ruhte. Am Fuß der steilen Treppe, die hinauf zum Eingang führte, stand Fürst Nius leere Sänfte. Zwei weitere Posten hielten an einer Tür Wache, vor der sich eine breite Veranda mit säulengestütztem Dach erstreckte. Überdachte Gänge führten zu beiden Seiten des shinden zu ähnlichen, aber kleineren Gebäuden. Hinter den Fenstergittern aller drei Häuser erstrahlte helles Licht. Sano kannte diese Architektur und vermutete, daß von den zwei kleineren Seitengebäuden weitere überdachte Gänge nach hinten führten, die einen Garten auf der Rückseite der Häuser umschlossen und in offenen Gartenlauben endeten. Hinter diesem Gartengelände wiederum standen wahrscheinlich weitere kleine Gebäude, die miteinander verbunden waren und Unterkünfte für die Familie, Räumlichkeiten für die Dienerschaft und die Gefolgsleute, Küchen, Lagerräume und Stallungen beherbergten. Sano hatte ähnliche Anlagen auf alten Gemälden gesehen. Schriftstellerinnen an den Kaiserhöfen der Heian-Dynastie – Murasaki Shikibu oder Sei Shōnagon – hatten in solchen Wohnanlagen ihre Gedichte, Geschichten und Tagebücher geschrieben. Prinz Genji hatte in den Kammern, Pavillons und Gärten seinen romantischen Liebschaften gefrönt.
Daß Fürst Niu zur unpassenden Jahreszeit hierherkam – noch dazu heimlich, auf Umwegen und in einer Sänfte ohne Wappen und sonstige Hoheitszeichen –, legte
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