Der Kirschbluetenmord
die Vermutung nahe, daß die Sommervilla ihm zu irgendwelchen finsteren Zwecken diente.
Indem er von Baum zu Baum huschte, näherte Sano sich der Rückseite des Hauses. Die Lichtung verlief parallel zu dem überdachten Gang, den Sano zu finden erwartet hatte. Dicht vor den weitläufigen Familienunterkünften kroch er unter den erhöhten Holzfußboden eines Pavillons am Ende des überdachten Ganges. Als er die gegenüber liegende Seite des Pavillons erreicht hatte, spähte er vorsichtig zum Haupthaus hinüber. Im Garten hinter dem shinden befand sich ein kleiner See mit einer Insel in der Mitte; diese Insel war durch zierliche Holzbrücken mit dem Ufer verbunden. Sano riß den Kopf zurück, als er zwei weitere Wächter auf der hinteren Veranda stehen sah. Seine Neugier wuchs; sie war ohnehin von den Gesprächsfetzen geweckt worden, die er vorhin von den beiden Samurai-Posten auf der äußeren Seite der Mauer aufgeschnappt hatte. Ließen alle Daimyō ihre Sommervillen das ganze Jahr über so streng bewachen, oder waren diese Männer aus einem bestimmten Grund hier? Gab es noch weitere Posten im Innern des Hauses? Wie dem auch sei – bei all diesen Wächtern kam Sano nicht an Fürst Niu heran. Erschöpft und mutlos, zog er sich wieder unter den Pavillon zurück und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Er lehnte sich gegen einen großen, gebogenen, hölzernen Gegenstand, der sich neben ihm befand.
Vielleicht lag es daran, daß Sano die Konturen dieses Gegenstands vage vertraut vorkamen, daß ihn die plötzliche Erkenntnis durchzuckte; vielleicht war es auch seine Samurai-Ausbildung, die ihn gelehrt hatte, besonders wachsam zu sein, wenn er an Orten, an denen er sich nicht aufhalten durfte, auf unbekannte Gegenstände stieß. Jedenfalls betrachtete Sano das Objekt, konnte jedoch nur Umrisse ausmachen. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er, daß es ein Boot war – kein zerbrechlicher Nachen, um Damen über den See zur Insel zu bringen, sondern ein robuster Kahn aus dickem Holz, auf dem ein ebenso kräftiges Ruder lag. Sano griff ins Innere des Bootes. Seine Finger berührten tatami- Matten, die zu einem losen Bündel zusammengefaltet waren. Als Sano das Bündel betastete, hatte er den Eindruck, im Innern irgend etwas zu fühlen. Wachsam, stets auf Schritte lauschend, faltete er das Bündel auseinander. Er hoffte, daß die Wächter auf der Veranda das leise Rascheln auf diese Entfernung nicht hören konnten.
Als Sano die letzte Falte zur Seite schlug, fielen zwei weiche Gegenstände neben ihm zu Boden. Er hob sie auf. Ein Triumphgefühl durchströmte ihn.
In der einen Hand hielt er eine Sandale. Sie war aus Stroh geflochten und an der Innenseite der Ferse arg abgetragen. Die andere Hand schloß sich um eine Seilrolle. Das Gegenstück dieser Sandale hatte Sano in Doktor Itōs Sezierraum gesehen: Sie gehörte Noriyoshi. Und Sano hätte auf sein Leben geschworen, daß das Seil einst dazu gedient hatte, die tatami -Matten in dem Kahn um zwei Körper zu wickeln, als sie von hier aus zu ihrem Grab im Fluß transportiert worden waren.
Im Geiste versuchte Sano, sich den Ablauf der Ereignisse vorzustellen: Zuerst hatte Fürst Niu seine Opfer zur Villa gelockt. Noriyoshi vielleicht mit dem Versprechen, ihm Geld zu geben; Yukiko mit der Aufforderung, hier zu erscheinen – unter irgendeinem harmlosen Vorwand. Dann hatte Fürst Niu sich an die beiden herangeschlichen und die tödlichen Schläge geführt. Anschließend hatte er die Leichen in die goza -Matten eingewickelt und das unhandliche Bündel auf dem Pferderücken zum Flußufer geschafft, wo das Boot bereit stand …
Sano stopfte die Sandale und das Seil unter seinen Umhang. Das erste aufrichtige Lächeln seit Tagen umspielte seine Lippen. Endlich hatte er Beweismittel, die er den Behörden vorlegen konnte – nicht dem Magistraten Ogyū, sondern einer höheren Instanz, dem Rat der Ältesten. Jetzt mußten sie ihm zuhören.
Doch statt sich sofort auf den Rückweg zur Stadt zu begeben, zögerte Sano. Er wußte immer noch nicht, weshalb Yukiko und Noriyoshi getötet worden waren. Wie sollte er Fürst Niu mit den Morden in Verbindung bringen, wenn er den Behörden kein Motiv nennen konnte? Er mußte es herausfinden, selbst wenn er die ganze Nacht hier sitzen bleiben und das Haus beobachten mußte. Aber wie konnte er in die Nähe Fürst Nius gelangen?
Die Idee kam Sano in dem Augenblick, als er sah, daß sich auch die Gänge, die von
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