Der Kirschbluetenmord
ragte darüber empor. Er wirkte noch abweisender, furchteinflößender und massiver als aus der Ferne. Angesichts einer solchen militärischen Macht kam Sano sich winzig und unbedeutend vor. Der Wahnsinn mußte Fürst Niu übermenschlichen Mut verliehen haben, sich damit anzulegen.
Als Sano an zwei weiteren Wachthäusern vorbei war und die Brücke überquert hatte, gelangte er in eine zweite Einfriedung, an der weitere Posten standen, und schließlich vor ein drittes Tor, hinter dem ein schmaler, leicht ansteigender Durchgang voller Kurven, Kehren und Windungen in die Höhe führte. In den weiß verputzten Wänden überdachter Wehrgänge, die an den hohen steinernen Wänden entlangführten, befanden sich Schießscharten für Musketiere und Bogenschützen. In regelmäßigen Abständen erblickte Sano größere quadratische Öffnungen in den Wehrgängen, die es den Verteidigern ermöglichten, schwere Steine auf jeden Angreifer fallen zu lassen, der die Mauern hinaufzuklettern versuchte. Hinter diesen Öffnungen konnte Sano weitere Wachtposten erspähen. Die anderen Besucher, die er zu sehen bekam, wurden allesamt von eigenen bewaffneten Eskorten begleitet. Nur Samurai, die stolz das Wappen der Tokugawas trugen, waren hier unterwegs – allein und bewaffnet.
Sano verlor den Überblick, was die Zahl der Kontrollstellen und Tore betraf, an denen er vorüberkam. Tokugawa Ieyasu hatte eine Festung errichten lassen, die jeder Belagerung standhalten konnte. Aber sind seine Nachfolger deshalb vor Verrat geschützt, fragte sich Sano, als er an das fanatische Lodern in Fürst Nius Augen dachte. Vielleicht planten die Verschwörer auch, dem Shōgun außerhalb der schützenden Mauern des Palasts einen Hinterhalt zu legen, fern von den Heerscharen seiner Wachtmannschaften.
Durch das letzte Tor gelangte Sano schließlich in den inneren Bereich des Palasts. Trupps bewaffneter Posten patrouillierten durch einen im traditionellen Stil angelegten Garten, der mit Platanen, Kiefern und Felsbrocken gestaltet war. Ein breiter Kiesweg führte zum eigentlichen Palast.
Unwillkürlich blieb Sano stehen, um diesen völlig unerwarteten Anblick in sich aufzunehmen. Die Mauern des niedrigen, weitläufigen Gebäudes waren weiß verputzt, so daß sich das dunkle Zypressenholz der Balkenkonstruktion, der Fensterrahmen und der Türen deutlich abzeichnete. Das tiefdunkle Ziegeldach erhob sich zu ungezählten hohen und niedrigen Giebeln, die allesamt von vergoldeten Drachen gekrönt wurden. Der Palast strahlte gelassene Heiterkeit und Eleganz aus; eine Oase der Ruhe fern der wimmelnden Straßen Edos. Nur die zarten Klänge von Musik und die gedämpften Explosionen von Feuerwerkskörpern störten diesen Frieden: Im Innern des Palasts und auf dem Hof fanden setsubun -Feiern statt, wie auch in den Daimyō-Villen überall auf dem Palastgelände. Sano dachte an Fürst Niu Masahitos Rede: Die Nius und die anderen Daimyō-Sippen hatten den Tokugawas mit ihrem Geld in der Tat ein prunkvolles Heim finanziert.
Sanos Gedanken wurden von dem Wachtposten unterbrochen. »Beeilt Euch!« befahl der Mann.
Sie durchquerten den Garten und wurden an der geschnitzten Eingangstür des Palasts von den Wächtern durchgelassen. Als Sano in der riesigen Eingangshalle die Sandalen auszog, fragte er sich, ob es richtig gewesen war, in den Palast zu kommen, zumal mit einer solchen Absicht.
Im Innern des Palasts breitete sich vor Sano ein Labyrinth aus Fluren und Gängen aus, die sich durch den äußeren Teil des Gebäudes wanden, wo sich die Schreibstuben der Regierungsbeamten befanden. Das Sonnenlicht fiel in leuchtenden Bahnen durch die Fenstergitter auf den gewachsten Fußboden aus Zypressenholz. Breite Gänge führten an luftigen Empfangszimmern mit den üblichen Podesten für den Hausherrn, mit kassettierten Decken und prunkvollen Landschaftsgemälden an den Wänden vorbei; die schmäleren Gänge wurden zu beiden Seiten von kleinen Zimmern gesäumt. Einige Türen waren geöffnet und gewährten den Blick auf Beamte, die ihren Schreibern diktierten, auf Besprechungsrunden und Sitzungen. Zweimal begrüßte Sanos Führer patrouillierende Wachtposten; ein andermal verbeugten sich beide vor einem Hofbeamten, der in fließende Gewänder gekleidet war. Ansonsten aber machte der Palast einen beinahe verlassenen Eindruck. Unnatürliche Stille lag über dem riesigen Komplex, in dem normalerweise rege Betriebsamkeit herrschen und die Mühlen der Bürokratie vernehmlich hätten mahlen
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