Der Kirschbluetenmord
hellen Augen des jungen Mannes verliehen seinem Gesicht eine Ausdruckskraft, die seiner Mutter fehlte. Und während die Fürstin selbst in kniender Stellung hochgewachsen wirkte, war ihr Sohn von kleiner Gestalt. Obwohl sein Körperbau, sein Auftreten und der Klang seiner Stimme auf ein Alter von Anfang Zwanzig schließen ließen, war er nicht größer als ein Knabe von vierzehn, fünfzehn Jahren. Sano hatte des öfteren hinter vorgehaltener Hand gehört, wie der Vater dieses jungen Mannes, Fürst Niu Masamune, seiner Körpergröße wegen »kleiner Daimyō« genannt worden war, was ganz und gar nicht seinem gesellschaftlichen Status entsprach. Der Sohn schien auf den Vater zu kommen.
»Sei so freundlich, und sprich selbst mit dem Priester, Masahito.« In der Stimme der Fürstin lag eine kaum hörbare Warnung.
Doch Masahito schien sie zu überhören. Er durchquerte das Zimmer und kniete sich neben die Estrade, das Gesicht Sano zugewandt. Er bewegte sich mit steifen Schritten, wie Sano bemerkte, und als er niederkniete, benutzte er beide Hände, um das rechte Bein neben das linke zu ziehen.
»Yoriki Sano ist zu uns gekommen, um gewisse Verwaltungsangelegenheiten zu besprechen, die Yukikos Tod betreffen«, sagte die Fürstin zu ihrem Sohn. »Diese Dinge brauchen dich nicht zu interessieren.«
»Im Gegenteil, Mutter. Ich wüßte nicht, was mich mehr interessiert.« Masahito winkte Sano mit einer herrischen Geste zu. »Fahrt fort, bitte.«
Daß Fürst Masahito nun bei ihnen war, machte Sano Sorgen. Der junge Mann stellte eine Ablenkung dar, die bewirken konnte, daß die Fürstin sich weniger hilfsbereit zeigte als bisher, und die Sano zudem in Gefahr brachte, einen Fehler zu begehen. Andererseits begrüßte er die Gelegenheit, einen weiteren Familienangehörigen Yukikos kennenzulernen.
»Was für ein Mensch war Yukiko?« erkundigte er sich. Die Frage, ob sie irgendwelche Feinde gehabt hatte, brannte ihm auf der Zunge, doch er mußte seine Absichten hinter behutsamen, höflichen Erkundigungen verbergen. »Wie ist sie mit anderen Menschen zurechtgekommen?«
Fürstin Niu antwortete sofort. Sie redete hastig, als wollte sie verhindern, daß der Sohn ihr zuvorkam. »Yukiko war verschlossen. Sie hat ihre Gedanken stets für sich behalten. Trotzdem war sie ein ausgesprochen höfliches und kluges Mädchen. Jeder hat sie bewundert.«
»Jeder, Mutter?« warf Masahito ein, wobei er die Betonung auf das erste Wort legte.
Es schien ihm Freude zu bereiten, die Mutter in Bedrängnis zu bringen, doch außer einem kurzen, flehentlichen Blick auf ihren Sohn zeigte Fürstin Niu keine Reaktion. Offensichtlich war sie nachsichtig mit Masahito und tolerierte ein solches Benehmen, das einer Tochter eine harte Strafe eingebracht hätte. Sano gelangte zu der Ansicht, daß die Anwesenheit des jungen Fürsten letztendlich ein Vorteil für ihn war. Masahitos Bemerkung stand im krassen Widerspruch zur Charakterisierung Yukikos durch Fürstin Niu.
»Also gab es Personen, die Yukiko nicht gemocht haben?« fragte Sano den jungen Mann.
Wieder meldete die Fürstin sich zu Wort, bevor ihr Sohn antworten konnte. »Masahito scherzt nur. Jeder, der Yukiko kannte, hat sie sehr geschätzt.«
Diesmal widersprach Masahito nicht. Er hielt den Blick auf Sano gerichtet; ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel.
Sano versuchte, das Thema zu wechseln. In der Hoffnung, zu erfahren, wie Yukikos Mörder sich Gelegenheit hatte verschaffen können, das Mädchen zu töten, fragte er: »Wäre es für Yukiko nicht schwierig gewesen, das Haus allein zu verlassen?« Er wollte mit dieser Frage den Eindruck erwecken, als würde ihn lediglich interessieren, wie eine wohlbehütete junge Dame es bewerkstelligen konnte, sich heimlich mit ihrem Liebhaber zu treffen.
»Dies ist ein großes Haus, yoriki Sano«, antwortete Fürstin Niu. »Hier wohnen viele Menschen, und es ist so gut wie unmöglich, jeden im Auge zu behalten. Außerdem haben wir erfahren, daß Yukiko eine der Wachen bestochen hat. Er hat sie beim letzten Treffen vor ihrem Tod nach Anbruch der Dunkelheit durch das Tor gelassen.« Die Lippen der Fürstin wurden schmal. »Wir haben diesen Mann inzwischen entlassen.«
Sanos Interesse war geweckt. »Hat jemand beobachtet, wie Yukiko am Abend ihres Todes das Anwesen verließ? Oder weiß jemand, wohin sie wollte?«
»Nein«, erwiderte Fürstin Niu. »Unglücklicherweise haben wir alle an diesem Abend die Aufführung eines Gesangsstücks besucht, die Fürst
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