Der Kirschbluetenmord
Reihe von Namen; es handelte sich ausnahmslos um Männer, die in den Teehäusern oder Eßlokalen Yoshiwaras als Künstler arbeiteten.
Sano prägte sich jeden Namen ein. »Keine Frauen?« fragte er.
»Nein, Herr. Nicht, daß ich wüßte. Bis auf die junge Dame, die mit ihm zusammen gestorben ist.«
Eine Bewegung fiel Sano ins Auge. Er senkte den Blick. Wenngleich Kirschenessers Gesichtsausdruck sich nicht verändert hatte, verlagerte er nervös das Körpergewicht von einem Fuß auf den anderen. Diese Beobachtung – nahm man die unerwartet nüchterne Antwort hinzu – ließ Sano erkennen, daß der Kunsthändler log. Sein Körper, seine ganze Haltung verrieten es.
Sano wechselte das Thema, um Kirschenesser vorerst in Sicherheit zu wiegen und ihn dann mit gezielten Fragen zu überfallen. »Hat Noriyoshi hier Verwandte?«
Kirschenessers Füße kamen zum Stillstand. »Hier nicht, Herr. Aber er hat viele Verwandte in der Welt der Geister. Er hat mir erzählt, daß alle seine Angehörigen beim Großen Feuer ums Leben gekommen sind.«
»Wer waren Noriyoshis Feinde?«
»Er hatte keine Feinde, yoriki« , antwortete Kirschenesser mit sachlicher Stimme. »Er war allgemein beliebt.«
Sano wartete auf irgendeine vorwitzige Bemerkung, doch sie blieb aus. Wieder betrachtete er die unruhig scharrenden Füße des Kunsthändlers. »Ihr solltet es mir lieber gleich sagen«, erklärte Sano. »Falls Ihr es nicht tut, erfahre ich es gewiß von jemand anderem. Oder seid Ihr sicher, daß Ihr Euren und Noriyoshis gemeinsamen Freunden …«, er zählte sämtliche Namen auf, die Kirschenesser ihm genannt hatte, »… so sehr trauen könnt, daß sie nichts ausplaudern?«
»Es tut mir leid, Herr, aber ich verstehe nicht, was Ihr damit sagen wollt.« Linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß. Die Bodenbretter knarrten unter Kirschenessers Gewicht.
»Wer ist Noriyoshis Freundin?«
Kirschenesser verschränkte die Arme über seiner vorgewölbten Brust. »Mit allem gebotenen Respekt, yoriki, aber es gefällt mir nicht, wie Ihr mit mir redet. Ihr bezeichnet mich als Lügner.« Offenbar hatte der Entschluß zu bluffen Kirschenessers Nerven beruhigt. Seine Füße standen still. »Entweder Ihr nehmt mich fest und bringt mich vor den Magistraten, oder Ihr verlaßt mein Geschäft!«
Ganz kurz schloß Sano die Augen. Er ärgerte sich über sich selbst. Seiner Unerfahrenheit wegen hatte er das Gespräch an einen toten Punkt geführt. Jetzt würde Kirschenesser ihm kein Wort mehr sagen. Und weil der Mann sich geweigert hatte, eine Frage zu beantworten, die mit einem offiziell als Selbstmord deklarierten Fall zu tun hatte, konnte Sano ihn schwerlich festnehmen. Sano wagte es nicht einmal, Kirschenesser wegen des Verkaufs illegaler Kunstgegenstände oder der Beleidigung eines Polizeioffiziers zu verhaften: Magistrat Ogyū hatte deutlich gemacht, daß er es nicht wünschte, daß seine yoriki die Arbeit der dōshin taten. Vor allem durfte Ogyū nicht erfahren, daß Sano die Ermittlungen über Yukikos und Noriyoshis Tod auf eigene Faust weiterführte, solange er nicht beweisen konnte, daß es sich um Morde handelte.
»Ich hatte nicht die Absicht, Euch zu beleidigen«, sagte er zu Kirschenesser, obwohl es ihm gegen den Strich ging, sich angesichts der Sticheleien und Anzüglichkeiten des anderen zu entschuldigen. Doch Sano hoffte, den Kunsthändler soweit zu besänftigen, daß dieser ihm den Wohn- und Arbeitsplatz Noriyoshis zeigte. Sano wollte ein Gespür für den Ermordeten bekommen, einen Eindruck von diesem Mann – vielleicht sogar einen Hinweis darauf, weshalb jemand einen Grund gehabt haben könnte, ihn zu töten. »Ich bin nicht hierher gekommen, um Euch festzunehmen, und ich habe keinen Zweifel an Eurer Lauterkeit. Ich möchte nichts weiter als Informationen für meine Unterlagen, und bisher habt Ihr Euch sehr hilfsbereit gezeigt. Dürfte ich Euch vielleicht noch um eine kleine Gefälligkeit bitten? Würdet Ihr mir Noriyoshis Wohnräume zeigen?«
»Selbstverständlich, Herr.« Kirschenesser schien froh zu sein, daß Sano selbst ihm einen Grund gab, nicht mehr von Noriyoshis Frauen und Feinden erzählen zu müssen. Er schob eine Tür in der Wand zur Seite; dahinter kam ein schmaler, schummrig erleuchteter Durchgang zum Vorschein. »Hier entlang.«
Sano folgte dem Kunsthändler den Durchgang hinunter und auf einen kleinen, schmutzigen Hof. Die linke Seite des Hofes wurde von der Wand des benachbarten Geschäfts begrenzt; auf der rechten Seite
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