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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Äste der eingetopften Zierkirschenbäume, die an der Straße standen, prangten im Frühling in leuchtendem Rosa und im Sommer in sattem Grün. Jetzt waren sie nackt und kahl. Zwar waren zahlreiche vergnügungssuchende Samurai und gemeine Bürger zu sehen, doch sie gingen mit eiligen Schritten, statt gemächlich dahinzuschlendern, und sie hüllten sich zum Schutz gegen die Kälte tief ihre dicke Winterkleidung. Selbst das Gelächter, das aus einigen Vergnügungsbetrieben drang, klang gedämpft. Der festliche Glanz Yoshiwaras, an den Sano sich erinnern konnte, war verblaßt.
    Tsunehiko dagegen schien die winterliche Tristesse des Vergnügungsviertels nichts auszumachen. »Ist es nicht phantastisch?« rief er begeistert und blickte fasziniert auf die Schilder. »Ich kann gar nicht verstehen, warum Yoshiwara so weit von der Stadt weg ist. Wäre die Reise nicht so lang, könnten wir jeden Tag hierherkommen.«
    »Die Regierung legt Wert darauf, daß dieses Viertel so weit wie möglich von der Stadt entfernt ist, weil sie die öffentliche Moral schützen will«, erwiderte Sano und nutzte die Gelegenheit, seinem Schützling eine weitere Lektion zu erteilen. »Außerdem ist es für die Polizei einfacher, ein Vergnügungsviertel zu kontrollieren, das abgeschlossen und nicht über mehrere Stadtteile verstreut ist. Auf diese Weise kann man beispielsweise die Zahl junger Mädchen verringern, die entführt und von Zuhältern an die Bordelle verkauft werden.«
    Er wollte hinzufügen, daß auch den metsuke – den Spionen der Regierung – Yoshiwara sehr dienlich war, da sie in diesem abgeschlossenen Vergnügungsviertel Bürger von zweifelhaftem Ruf besser im Auge behalten konnten. Doch Sano bemerkte, daß Tsunehiko ihm gar nicht mehr zuhörte. Der junge Bursche hatte sich gebückt und spähte unter einem Vorhang hindurch, der vor dem Eingang eines Teehauses hing. Ein Schild über der Tür verkündete: »HIER FRAUEN-SUMO! Erlebt die berühmten Ringerinnen Busen-Beben, Steck-ihn-rein, Quetsch-den-Sack und Klammerschenkel in gnadenlosem Zweikampf!« Auf einem kleineren Schild stand zu lesen: »Heute abend Sondervorstellung: Blinde Suche nach dem dunklen Punkt – weibliche Ringer gegen blinde Samurai!« Kehlige Schreie und laute Jubelrufe erklangen aus dem Innern des Teehauses und ließen erkennen, daß die Kämpfe, die in der Stadt Edo überall verboten waren, bereits begonnen hatten.
    Sano schüttelte den Kopf. Es war ein Fehler gewesen, Tsunehiko mit hierher zu nehmen. Jetzt mußte er kostbare Zeit dafür verschwenden, den Jungen im Auge zu behalten. Eine Sorge mehr, dachte er. Als wären ein verwirrender Mordfall, der Zorn einer Fürstin und die Gefahren, die mit seinen verbotenen Nachforschungen verbunden waren, nicht schon schlimm genug.
    »Komm endlich, Tsunehiko«, sagte er. »Wir müssen die Straße der Galerien suchen.«
    Zu Sanos Erstaunen erwies Tsunehiko sich zum ersten Mal in seiner Schreiberkarriere als echte Hilfe. Wenn auch widerwillig, zog er den dicken Kopf unter dem Vorhang des Teehauses hervor und erklärte: »Ich weiß, wo die Straße ist. Folgt mir, ich kenne eine Abkürzung.«
    Tsunehiko stapfte die Nakano-chō hinunter, führte Sano um eine Gebäudeecke und dann eine Straße hinunter, die von Mauern gesäumt war, hinter denen die Lustgärten der Freudenhäuser versteckt lagen. Kurz darauf drangen sie in ein Labyrinth aus schmalen Gassen ein, die von geschlossenen Türen, vergitterten Fenstern und überquellenden Müllbehältern aus Holz gesäumt waren. Streunende Hunde wühlten in den übelriechenden Abfallhaufen. Sano war erleichtert, als sie aus dem dunklen Gewirr der Gassen auf eine breite, helle Straße gelangten.
    »Da wären wir«, verkündete Tsunehiko stolz. »Seht Ihr?«
    Zu beiden Seiten der Straße der Galerien waren durch die offenen Ladeneingänge Regale und Wände zu sehen, welche mit farbenfrohen Holzschnitten behängt waren. Kunstsammler eilten vorüber. Viele von ihnen waren Samurai, die gegen das Gesetz verstießen, welches ihnen den Besitz sogenannter unmoralischer Kunstwerke untersagte. Vor den Galerien standen Marktschreier; sie riefen die Preise aus und priesen die Qualität ihrer Waren. In den Läden selbst feilschten die Eigentümer lautstark mit ihren streitbaren Kunden. Sano betrachtete die Namensschilder über den Galerien. Die Kunsthandlung Okubata lag etwa in der Mitte der Straße. Jetzt mußte er nur noch Tsunehiko loswerden, dann konnte er sich ungestört mit dem Eigentümer

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