Der Kirschbluetenmord
befand sich ein großes, hüttenartiges Gebäude, vor dem eine schmale Veranda verlief. Auf der Hinterseite des Hofes erblickte Sano einen Abort, einen Holzstapel und eine Reihe von Vorratsbehältern aus Keramik, die an einen Bambuszaun gelehnt waren. Der bittere, stechende Geruch von Tusche überlagerte den Gestank von Abwässern und den würzigen Duft von Sägemehl. Kirschenesser führte seinen Besucher an der Hütte vorbei. Durch offene Türen konnte Sano drei identische Kammern sehen. In jedem dieser winzigen Räume kniete ein Mann vor einem Tisch mit schräger Arbeitsfläche. Der Mann im ersten Zimmer kerbte mit einem Hohlmeißel aus Metall Rillen in einen geglätteten Holzblock. Der zweite bestrich einen fertig geschnitzten Block mit Tusche und drückte ihn auf ein weißes Blatt Papier. Der dritte schließlich malte gedruckte Schwarzweiß-Holzschnitte mit Farben aus.
Kirschenesser stieg zur Veranda hinauf und blieb vor der geschlossenen Tür einer vierten Kammer stehen. »Noriyoshis Zimmer«, sagte er und schob die Tür auf.
Sano trat ein und stieg über zwei Paar Holzsandalen hinweg, die hinter der Schwelle standen. Die Decke war so niedrig, daß er sich bücken mußte. Wie schon die anderen drei Räume, war auch dieser winzig klein; der Arbeitstisch, der an einer Wand stand, nahm einen Großteil des Zimmers ein und ließ gerade noch genügend Platz für die Schlafstelle eines erwachsenen Mannes. Ausgefranste, von Sägemehl übersäte Matten lagen auf dem Fußboden. Neben dem Arbeitstisch stand eine geöffnete Werkzeugkiste, in der sich verschiedene Messer, Stichel und Hohlbeitel befanden. Auf dem Tisch lag eine Tuscheskizze; daneben standen ein frisch zugeschnittener Holzblock sowie ein Topf mit verkrusteter, eingetrockneter Paste aus Weizenmehl, in der ein Pinsel steckte. Noriyoshi hatte offenbar alles vorbereitet, um seinen Entwurf in den Holzblock einzuritzen. Als Sano die Tuscheskizze genauer betrachtete, war er dermaßen verblüfft, daß er zweimal hinschauen mußte: Es war ein shunga im gleichen Stil, wie er sie hinten im Laden gesehen hatte, nur daß diese erotische Zeichnung zwei Männer zeigte.
»Eine Sonderanfertigung für einen besonderen Kunden, hä-hä-hä.« Kirschenesser kauerte sich neben Sano nieder, kicherte und rieb sich die Hände. »Viele Samurai haben eine Vorliebe für so etwas, nicht wahr?«
Sano überhörte die Stichelei. Obwohl er niemals gleichgeschlechtliche Liebe praktiziert hatte – und auch nicht den Wunsch danach verspürte –, teilte er die herrschende Meinung, was diese und andere sexuelle Vorlieben betraf: Solche Dinge waren Privatsache und gingen Außenstehende nichts an, solange die Gefühle anderer nicht verletzt wurden. Außerdem war er es leid, sich die versteckten Andeutungen des Kunsthändlers anzuhören, zumal es ihm ziemlich egal war, wie Kirschenesser über ihn und die Kaste der Samurai dachte. Sano wandte sich einem klapprigen Schrank zu, der an der Wand gegenüber vom Arbeitstisch stand.
Die geflickten Kleidungsstücke, das zerschlissene Bettzeug, das angeschlagene Geschirr und die Sammlung von Pinseln, Kohlestiften und Entwürfen, die Sano entdeckte, bewiesen ihm nur, was er bereits wußte: daß Noriyoshi ein Künstler mit großem Talent und sehr bescheidenen Einkünften gewesen war. Sano beendete soeben die flüchtige Durchsuchung mehrerer Kimonos aus Baumwolle, als seine Finger etwas Hartes ertasteten. Er zog einen kleinen Beutel hervor, der mit einer Kordel zugezogen war. Das Gewicht des Beutels verwunderte ihn – bis er ihn öffnete und die goldenen koban darin entdeckte. Es mußten mindestens dreißig dieser schimmernden ovalen Münzen sein; eine Summe, die hoch genug war, daß eine große Familie ein Jahr lang bequem davon leben konnte. Es war viel zuviel Geld, als daß ein armer Künstler wie Noriyoshi es je auf rechtmäßige Weise hätte verdienen können.
»Wißt Ihr, woher dieses Geld stammt?« fragte Sano den Kunsthändler.
Mit erstaunlicher Geschwindigkeit schoß Kirschenessers Hand vor und packte den Beutel. Er steckte ihn in seinen Umhang und erklärte: »Das gehört mir. Manchmal hat Noriyoshi ausstehende Gelder für mich kassiert.«
Sano musterte den Kunsthändler von oben bis unten. Auf seinem Gesicht lag ein unschuldiger Ausdruck, doch mit wachsender Verzweiflung bemerkte Sano, daß der Mann wieder nervös mit den Füßen scharrte: Kirschenesser hatte ihn schon wieder belogen.
Sano unterdrückte den Impuls, die Wahrheit aus dem Kerl
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