Der Kirschbluetenmord
gesamtes Bargeld zusammen. Es konnte kostspielig werden, eine gewisse Zeit in Yoshiwara zu verbringen; zum anderen mußte er vielleicht jemanden bestechen, um an eine gewünschte Information zu gelangen. Dann ging Sano zu den Ställen, um sein Pferd zu holen. Diesmal würde er statt der langsamen Fähre den schnelleren Landweg nach Yoshiwara nehmen.
Als er auf sein Pferd stieg, wurde ihm klar, daß er sich gar nicht anders hätte entscheiden können – trotz seines festen Vorsatzes, die Nachforschungen einzustellen. Am heutigen Tag hatte er seine Amtspflichten erfüllt, ohne von den Vorschriften und Gewohnheiten abgewichen zu sein. Aber eins hatte er nicht getan: den Bericht fertigzustellen, der die Nachforschungen über den Tod Noriyoshis und Yukikos für abgeschlossen erklärte.
»Eine letzte Befragung kann nicht schaden«, sagte er laut, was ihm verdutzte Blicke der Stallburschen einbrachte. »Danach höre ich endgültig auf.«
Dennoch konnte er seine Schuldgefühle und die Ahnung einer bevorstehenden Katastrophe nicht abschütteln.
Sano stellte fest, daß der Anblick des abendlichen Yoshiwara ihm viel besser in Erinnerung war als der am Nachmittag. Die Sonne ging unter, und vor dem Hintergrund des rotglühenden Himmels im Westen wimmelte die Nakano-chō vom Leben und Treiben. An den Dachvorsprüngen erstrahlten bunte Laternen. Aus den weit geöffneten Türen der Gasthäuser strömte der verlockende Duft der verschiedensten Köstlichkeiten – gebratene Nudeln, gegrillter Fisch und Garnelen, süßer Kuchen – und lockte die vorüberschlendernden Besucher an. In den Teehäusern erklang rauhes Gelächter, und wie auf einem Gemälde umrahmte jedes Fenster Gruppen von plaudernden, scherzenden Männern, die an Schalen mit Reiswein nippten. Wunderschöne yūjo in leichten Kimonos, exotischen Schmetterlingen gleich, saßen in den Gitterfenstern der Freudenhäuser, vor denen Männer umherschlenderten und die Insassen mit lüsternen Blicken bedachten. Mit schrillen Stimmen versuchten die Frauen, die Männer zu becircen. Aus den Zimmern im hinteren Teil der Bordelle waren die Klänge von Shamizen zu vernehmen: Einige glückliche Kunden hatten bereits ihre Wahl getroffen, und die Feiern hatten begonnen.
Sano fand den Palast des Himmlischen Gartens ohne Schwierigkeiten; er war das größte Gebäude an der Straße. Mit seinen geschnitzten, rot angestrichenen Balken und Säulen, die mit grünen und gelben Bemalungen verziert waren, ähnelte das Bauwerk einem chinesischen Tempel. Über dem Eingang hielten zwei glänzende Drachen ein rotes Banner zwischen sich, das in goldenen Schriftzeichen den Namen des Bordells trug. Nachdem Sano sich einen Weg durch die Menge gebahnt hatte, die in drei Reihen vor den Fenstern stand, sah er, daß die Frauen hier noch schöner waren als in den anderen Freudenhäusern.
Einem jungen Mädchen in einem roten Kimono, der mit weißen, glückbringenden Schriftzeichen bedruckt war, rief er zu: »Wo kann ich Wisterie finden, ehrenwerte Dame?« Es war üblich, yūjo mit großem Respekt zu behandeln, wie er sonst nur adeligen Damen entgegengebracht wurde.
Roter Kimono zog einen anmutigen Schmollmund. »Die ehrenwerte Wisterie, Herr? Was kann sie Euch bieten, das Ihr nicht auch von mir haben könnt?« Die förmliche Anrede und die gestelzte Sprache wurden von allen Prostituierten Yoshiwaras benutzt, wenn sie mit Kunden redeten. »Ein so männlicher und scharfsichtiger Krieger wie Ihr wird doch gewiß ein zartes Mädchen vorziehen, dessen frauliche Blüte sich eben erst entfaltet hat.«
Sie wedelte mit dem Fächer und beschirmte dabei verschämt ihr Gesicht – auf eine Art und Weise, die genauso gekünstelt war wie ihre Sprache. Die anderen Frauen kicherten und warteten auf Sanos Antwort.
Sano nahm all seine Geduld zusammen und erwiderte: »Ich wollte Euch nicht beleidigen, meine Dame.« Wie bedeutungslos die Schmeicheleien der Kurtisanen auch sein mochten oder wie schamlos ihre Aufforderungen waren, stets wurde ihnen höflich geantwortet. Ein anderes Verhalten hätte gegen die Traditionen Yoshiwaras verstoßen und den Zorn der Bordellbesitzer erregt, die ungehobelte Freier aus den Freudenhäusern jagten. »Aber ich muß mit Wisterie reden.«
»Reden? Er ist hergekommen, um zu reden?«
Wieder kicherten die anderen Frauen.
Sano gelangte zu der Einsicht, daß es das Beste sei, sich zu erkennen zu geben und den Grund seines Besuchs zu nennen. »Ich bin yoriki Sano Ichirō von der Polizei in
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