Der Kirschbluetenmord
Spannung stieg. Instinktiv trat er einen Schritt zurück, fort vom Ring und den beiden Kolossen.
Dieses Spektakel hatte nichts mit dem uralten shintōistischen Fruchtbarkeitsritual zu tun, das eintausendvierhundert Jahre zuvor begründet worden war, als Ringer aus benachbarten Dörfern gegeneinander kämpften, um zur Zeit der Reissaat den Segen der Götter zu erflehen. Ebensowenig hatte dieses »Sumo« mit dem sagenhaften Kampf gemein, der vor neunhundert Jahren zwischen zwei Söhnen des Kaisers stattgefunden hatte, um zu entscheiden, wer von den beiden den Thron besteigen durfte. Dieses Schauspiel ähnelte nicht einmal den großen Sumo-Turnieren der Jetztzeit, die vor den bedeutendsten Tempeln Edos stattfanden und bei denen Berufsringer, die in Diensten eines Daimyō standen, in traditionellem Stil vor gewaltigen Zuschauermengen kämpften. Dies hier war Gassen-Sumo der schlimmsten Sorte: gewalttätig, schmutzig und gefährlich. Es konnte alles mögliche passieren, bis hin zur Straßenschlacht zwischen den Anhängern der Kontrahenten. Sano fragte sich, ob er versuchen sollte, den Kampf zu verhindern. Obwohl die Regierung regelmäßig Verordnungen erließ, in denen das Straßen-Sumo verboten wurde, galt es nicht als illegal und wurde zumeist stillschweigend geduldet. Auf einer Seite des Ringes erblickte Sano zwei dōshin, die zu seinen Untergebenen zählten; damit hatte dieser Kampf sogar den Anstrich offizieller Absegnung.
Laut brüllend griffen Raikō und sein Gegner gleichzeitig an. Mit einem gewaltigen Klatschen prallte Fett gegen Fett. Die Wucht des Zusammenstoßes ließ beide Kontrahenten zurücktaumeln. Die Zuschauer sprangen beiseite; dann erhoben sich wieder wildes Geschrei und Anfeuerungsrufe.
»Bring ihn um! Bring ihn um!« donnerten die Rufe in Sanos Ohren.
Raikō griff den Gegner nun mit einer Geschwindigkeit an, die für einen so massigen Mann erstaunlich war. Indem er tsuppari benutzte – eine spezielle Schlagtechnik –, landete er eine Serie schneller, mit geöffneten Händen ausgeführter Hiebe auf Brust, Kehle und ins Gesicht des Widersachers. Der Kaufmann grunzte, wenngleich mehr aus Verblüffung als aus Schmerz. Der Mann versuchte, zurückzuschlagen, doch Raikō attackierte ihn schon wieder und trieb ihn in eine Ringecke. In dem Moment, als es ganz danach aussah, als würde der Kampf mit einem Sieg Raikōs enden, trat der Ringer zurück. Er grinste und winkte seinem keuchenden Widersacher, ihn anzugreifen. Sano erkannte, daß Raikō keinen so raschen Sieg davontragen wollte. Er hielt sich zurück, um dem Kaufmann eine weitere vermeintliche Chance zu geben, wodurch er weitere Zuschauer anlocken und ein paar Münzen mehr einheimsen konnte.
Mit müden Bewegungen taumelte der Kaufmann nach vorn und warf sich auf Raikō. Die Gegner umklammerten sich. Der Kaufmann schob und drückte, stieß und schubste. Doch während Raikō die Angriffe mühelos abwehrte und wie ein Fels in der Brandung dastand, keuchte und schnaufte der Kaufmann immer lauter. Schließlich sprengte Raikō die Umklammerung des Gegners und taumelte zwei Schritte zurück – ob mit Absicht oder nicht, konnte Sano nicht erkennen. Vielleicht hatte Raikō das Gleichgewicht verloren, oder er wollte dem Gegner eine Schwäche vortäuschen.
»Jetzt erwischst du ihn!« riefen die Freunde des Kaufmanns.
Durch diese Unterstützung mit frischem Mut erfüllt, stürmte der Kaufmann zu einem wilden Angriff voran. In Erwartung eines neuerlichen Zusammenpralls der Fettmassen zuckte Sano zusammen. Doch Raikō wich im letzten Augenblick aus, packte den Lendenschurz des vorüberstürmenden Gegners mit beiden Händen und nutzte den Schwung des Mannes, um ihn mit einem Außenarmwurf, einem der achtundvierzig klassischen Griffe der Sumo-Ringer, aus dem Ring zu schleudern.
Der Kaufmann schoß in die Zuschauermenge hinein. Als er zu Boden stürzte, halfen seine Freunde ihm auf. Raikōs Anhänger jubelten laut; die des Kaufmanns brüllten ihre Enttäuschung heraus. Plötzlich verwandelten sich der Jubelsturm und die Enttäuschungsschreie in ein ängstliches Gemurmel.
Sanos Herz setzte einen Schlag aus, als er den Grund dafür sah. Raikōs Gesicht, auf dem bis jetzt ein spöttisches Lächeln lag, hatte sich in eine mörderische Fratze verwandelt, die vor unerklärlichem wildem Zorn rot angelaufen war. Ohne Vorwarnung warf er sich auf seinen wehrlosen Gegner, schleuderte ihn zu Boden und bearbeitete ihn mit den Fäusten, wobei er wie ein verrückt
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