Der Kirschbluetenmord
hätte.
Sano versuchte sich vorzustellen, wie und weshalb die Morde verübt worden waren. Vielleicht hatte der Schauspieler Yukiko getötet, weil sie Zeugin des Mordes an Noriyoshi gewesen war …
»Wenn Ihr mich jetzt entschuldigt, ich muß mich auf den Weg machen«, unterbrach Kikunojō Sanos Überlegungen. »Es wird höchste Zeit.« Dann – ganz beiläufig, als wäre ihm dieser Gedanke gerade erst gekommen – fügte er hinzu: »Falls Ihr den Verdacht habt, daß Noriyoshi von jemandem ermordet wurde, den er erpreßt hat, dann solltet Ihr mit einem Sumo-Ringer namens Raikō sprechen.«
Wieder einmal mußte Sano Kikunojōs Intelligenz und seine rasche Auffassungsgabe bewundern. Gab es eine bessere Methode, einen Verdacht von sich zu lenken, als ihn auf jemand anderen zu richten?
»Was hatte Noriyoshi gegen diesen Raikō in der Hand?« fragte Sano.
Kikunojō zuckte die Achseln. »Das müßt Ihr ihn schon selbst fragen.« Er schob die äußere Tür der Garderobe auf, um den frischen, kühlen Wind hereinzulassen, der von der Straße herüberwehte.
Die Aussicht, einen onnagata ungeschminkt und in Männerkleidung aus der Tür gehen zu sehen, lenkte Sano für einen Augenblick von den Gedanken an seine Nachforschungen ab. »Ich dachte, Ihr zeigt Euch auch in der Öffentlichkeit nur in Frauenkleidern«, sagte er.
»Manchmal muß ich meine Kunst auf dem Altar der Anonymität opfern«, erwiderte Kikunojō. »Würde ich in diesen Sachen durch die Stadt gehen« – mit einer raschen Handbewegung wies er auf seine Frauen-Kimonos und die Perücken –, »würden die Leute mich erkennen. Einige meiner glühendsten und hartnäckigsten Bewunderer könnten mir folgen. Und das kann ich mir nicht erlauben. Nicht heute, wo ich mich um eine sehr persönliche Angelegenheit kümmern muß. Aber es ist in der Tat ein ziemlicher Aufwand. Ich muß mich nämlich wieder ganz umziehen, wenn ich gleich am Ziel bin.« Er legte sich das Kleiderbündel über die Schulter.
Erst jetzt wurde Sano klar, daß Kikunojō seine Geliebte besuchen wollte. Darüber, weshalb der Schauspieler einen langen Hochzeitskimono mitnahm, wollte Sano allerdings lieber nicht ausgiebiger nachdenken.
Geziert schlug der onnagata die Augen nieder und lächelte. »Sayōnara, yoriki« , murmelte er und machte eine tiefe Verbeugung. Auch ohne Schminke und Kostüm verwandelte er sich vor Sanos Augen in eine Frau. Dann wandte der große Kikunojō sich um, eilte hinaus auf die Straße – und wurde wieder zu einem unscheinbaren Mann, der sich rasch in der Menge verlor.
Kurz entschlossen folgte Sano dem Schauspieler. Zum einen hatte Kikunojō ein Motiv, Noriyoshi zu ermorden; zum anderen bestand eine Verbindung zwischen ihm und den Nius. Außerdem besaß Kikunojō die nötige Intelligenz, die Morde zu planen, und die erforderliche Körperkraft, sie auszuführen. Und in der Kleidung eines Mannes konnte er sich in der Stadt ungehindert bewegen, ohne erkannt zu werden. Es mochte zwar sein, daß die Schauspielerkollegen bezeugen konnten, daß tatsächlich Kikunojō an der Theaterprobe teilgenommen hatte – aber hatte er den Rest der Nacht wirklich bei seiner Geliebten verbracht? Sano mußte herausfinden, wer diese Frau war. Um ihren Namen zu erfahren, mußte er entweder viele Stunden damit verbringen, sich den Klatsch und Tratsch im Theaterviertel anzuhören – oder er ließ sich vom onnagata geradewegs zu der Dame führen.
10.
O
bwohl die Kunst des Beschattens nicht zu Sanos militärischer Ausbildung gezählt hatte, war es erstaunlich leicht für ihn, Kikunojō unauffällig zu folgen. Der onnagata ging mit forschen Schritten die Straße hinunter und schlängelte sich schwungvoll durch die Menge, doch seiner Körpergröße wegen überragte er die meisten anderen Passanten – die ohnedies in der Mehrzahl Frauen und Kinder waren –, so daß Sano keine Mühe hatte, ihn im Auge zu behalten. Er hielt sich etwa zwanzig Schritt hinter Kikunojō, während sie sich durch Saruwaka-chō bewegten. Sano achtete darauf, sich jederzeit rasch hinter einer Gruppe von Passanten oder im Eingang eines Teehauses verstecken zu können, falls Kikunojō einen Blick über die Schulter warf.
Doch Kikunojō schaute nicht zurück; er schien von seinem Verfolger nichts zu bemerken. Sano wiederum brauchte nicht zu befürchten, daß der Schauspieler sich plötzlich auf ein Pferd schwang und davonritt. Er hatte zwar gehört, daß der Shōgun – ein begeisterter Liebhaber und Förderer der schönen
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