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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Aufmerksamkeit der lärmenden Meute war auf irgendein Spektakel gerichtet, das vor dem Haus des Geschichtenerzählers stattfand, inmitten eines dichten Walles aus Leibern, der Sano den Blick versperrte. Die Zuschauer feuerten irgendwelche unsichtbaren Gegner mit lauten Schreien an.
    Sano stieg ab, band sein Pferd vor einem der Teehäuser an und drängte sich durch die Menge, bis er sehen konnte, was sich abspielte.
    Statt der Ballen aus Reisstroh, die normalerweise den Kampfplatz von Sumo-Ringern umgrenzten, markierten Kieselsteine einen unregelmäßigen Kreis. Der Boden des Ringes war bereits zertrampelt und zerwühlt. Ein zerlumpter kleiner Junge, der mit einem Stock rhythmisch auf einen Holzblock schlug, diente als Ersatz für die Trommler, die durch Edo marschierten, um die offiziellen Kämpfe anzukündigen. An einer Seite des provisorischen Ringes schritt ein Mann auf und ab, bei dem es sich nur um Raikō handeln konnte.
    Der Ringer war ungefähr in Sanos Alter und besaß in etwa die gleiche Größe; aber damit erschöpften sich auch schon die Gemeinsamkeiten. Raikō trug einen leuchtendgelben Kimono; auf dem Rückenteil war eines jener Bilderrätsel aufgedruckt, die zur Zeit beliebt waren: ein Kirschbaumzweig, ein Schwert und ein Paddel. Die Symbole, laut gelesen, hörten sich in etwa an wie: »Ich liebe den Kampf.« Raikōs Kimono war geöffnet, so daß man seinen gewaltigen, wabbeligen Schmerbauch sehen konnte, der sich über einem schwarzen, fransenbesetzten Lendenschurz wölbte. Der Sumo-Ringer stemmte die Hände in die schwammigen Seiten und verbeugte sich in der Hüfte, wobei er seine riesigen nackten Pobacken entblößte. Dann ging er in die Hocke, stützte die Hände auf die Oberschenkel, beugte sich zur Seite und hob das linke, angewinkelte Bein seitlich in die Höhe, um dann so fest mit dem schmutzigen nackten Fuß aufzustampfen, daß der Boden erbebte. Dann vollführte er die gleiche Übung mit dem rechten Bein. Staubwolken wirbelten empor. Zum einen sollte dieses Aufstampfen die Kraft des Ringers demonstrieren, zum anderen sollte es böse Geister vertreiben. Raikōs düstere Miene verwandelte sein rundes, feistes Gesicht in eine Dämonenmaske.
    Die Zuschauer jubelten und riefen: »Raikō!« Der Name – ein mehr oder minder phantasievolles Pseudonym, wie es viele Berufsringer benutzten – bedeutete »Blitz und Donner«. Raikōs begeisterte Anhänger führten sich tatsächlich so auf, als erwarteten sie von ihrem Idol einen Ausbruch von Kraft, der mit der Wucht eines schrecklichen Gewitters auf seinen Gegner niederging. » Rai-kō! Rai-kō! « Immer mehr Zuschauer fielen in die Anfeuerungsrufe ein und warfen dem Meister Münzen zu Füßen.
    »Der andere ist kein Gegner, sondern ein Opfer«, sagte ein Mann neben Sano.
    Sano stimmte insgeheim zu, nachdem er Raikōs Widersacher betrachtet hatte. Der Mann, der soeben auf der anderen Seite des Ringes seinen Umhang ablegte, war so groß und fett wie Raikō, aber eindeutig kein Berufsringer. Seine gute Kleidung und die Tatsache, daß er kein Schwert trug, ließen darauf schließen, daß er Kaufmann war. Als er seinen Kimono auszog, konnte Sano für einen Moment das prächtige Futter sehen: der geheime Protest eines reichen Kaufmanns gegen ein Gesetz der Regierung, welches ihm das Tragen von Seidenkleidung untersagte. Der Mann schauderte in der kalten Luft; dann ging er in die Hocke und ahmte unbeholfen Raikōs Aufstampfen nach. Auf seinem Mondgesicht lag ein seltsamer Ausdruck: eine Mischung aus verzweifelter Entschlossenheit, Angst und Verwirrung, so, als könnte er nicht recht begreifen, wie er den Mut aufgebracht hatte, sich auf so etwas einzulassen. Die Männer, die seine Kleidung hielten – vermutlich seine Freunde –, feuerten ihn an.
    Raikō zog einen Beutel aus seinem Kimono hervor, öffnete ihn und schüttete eine weiße, pulverige Substanz auf seine Handfläche. Das meiste davon schleuderte er in den provisorischen Ring; den Rest streute er sich auf die Zunge. Es war Salz, das dazu dienen sollte, sich und den Kampfplatz zu reinigen, wie die uralte Tradition es verlangte. Dann streifte auch er seinen Kimono ab und warf ihn dem Jungen mit der Holztrommel zu.
    Die beiden Kontrahenten nahmen Aufstellung, indem sie sich an gegenüberliegenden Seiten des Ringes niederkauerten. Die Fäuste auf den Boden gestützt, starrten sie sich in die Augen. Stille senkte sich über die Zuschauermenge. Sano spürte, wie auch sein Herz schneller schlug, als die

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