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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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gewöhnt war, von Fremden Almosen anzunehmen. Wahrscheinlich lebte er davon. Daß Raikō seinen Beruf auf der Straße ausübte, ließ darauf schließen, daß er keinen Daimyō-Gönner oder eine andere ständige Einnahmequelle hatte.
    Sano wartete, als Raikō seinen Kimono, die Sandalen und den Umhang anzog; zuletzt band er sich sein Schwert um, das in einer Mulde außerhalb des Ringes gelegen hatte. Dann gingen beide Männer die Straße hinunter zum Nudellokal.
    Das Lokal war kaum mehr als eine Eßbude an einem Straßenrand. Die Schiebetüren standen weit offen; nur ein kurzer blauer Vorhang, der am Dachvorsprung befestigt war, trennte das Innere von der Straße. Ein kurzer Korridor führte an der linken Wand entlang durch das winzige Speisezimmer in die Küche, in der zwei Frauen sich inmitten von Dampf und Rauch an einem Kohleherd abmühten. Aus den riesigen Kesseln strömte der verlockende Duft von Fleischbrühe, die mit Knoblauch, Sojasoße, Miso und Schalotten gewürzt war. Ein alter Mann in blauem Kimono und Stirnband stand hinter dem Tresen, der einen Teil der Küche vom Speisezimmer trennte. Einige glückliche Mittagsgäste knieten mit ihren Schüsseln und Eßstäbchen auf den Holzplanken vor dem Tresen; die anderen saßen zusammengedrängt auf dem irdenen Fußboden des winzigen Speisezimmers, die Beine entweder im Korridor, der in die Küche führte, oder auf der Straße. Sano und Raikō betraten das Lokal und stiegen über die Gäste hinweg zum Tresen.
    »Zweimal nach Art des Hauses«, bestellte Raikō, der hier Stammkunde zu sein schien, worauf auch das Kopfnicken und die Verbeugungen hindeuteten, mit denen der Wirt und die Gäste ihn begrüßten. »Und Sake. Aber reichlich.«
    Das Gericht ›nach Art des Hauses‹ erwies sich als kitsune udon, ›Fuchsnudeln‹, die nach dem bösartigen Fuchsgeist benannt waren, den jedermann, vom Bettler bis zum Shōgun, für jeden Kummer verantwortlich machte. Die dicken weißen Nudeln mit der fetten braunen Fleischsauce waren das Leibgericht des Fuchsgeistes und offenbar auch Raikōs Lieblingsspeise. Sano sah, daß die Schüssel des Ringers doppelt so groß war wie seine, und die Flasche Reiswein war riesig.
    Die Detektivarbeit kommt mich ganz schön teuer, ging es Sano durch den Kopf, als er dem Wirt das Geld reichte. Erst das Beileidsgeschenk für die Nius, dann die Reise nach Yoshiwara, dann die Eintrittskarte für das Theater – und jetzt mußte er noch einen Koloß von Sumo-Ringer durchfüttern. Für diese Summe hatte Sano früher, als Privatlehrer, eine Woche arbeiten müssen.
    Ohne größere Schwierigkeiten räumte Raikō in einer Ecke des Eßzimmers zwei Plätze frei. Sano wurde zwischen dem Tresen und Raikōs massiger Gestalt eingequetscht. Immerhin hielten die heiße Luft aus der Küche und der verschwitzte Körper des Ringers ihn warm.
    Mit Hilfe der Stäbchen schaufelte Raikō sich die Nudeln aus der Schüssel direkt in den Mund. Zwischen den Bissen hielt er dann und wann inne, rülpste und erzählte mit vollem Mund von seinem bitteren Los.
    »Es ist eine Schande, daß ein so großer Ringer wie ich für ein paar läppische Münzen auf der Straße kämpfen muß, findet Ihr nicht auch?« Rülps, schlürf. »Wie ein gewöhnlicher Bettler muß ich von der Hand in den Mund leben!« Schlürf, rülps. »Aber laßt Euch gesagt sein, Fremder – so ist es dem großen Raikō nicht immer ergangen!«
    Sano konnte nicht anders: Er mußte auf Raikōs Hände starren. Sie sahen seltsam gelenklos aus, wie die Hände von Personen auf Holzstichen. Die Finger mit den winzigen, spatenförmigen Nägeln waren unglaublich beweglich. Wie können Hände, die so schwach aussehen, fragte sich Sano, die Kraft aufbringen, die ein Sumo-Ringer benötigt? Oder die Kraft, die man braucht, um zwei Menschen zu töten und in den Fluß zu werfen …?
    Raikō stellte die Schüssel ab, füllte seine Schale mit Sake und leerte sie auf einen Zug. »Vor zwei Jahren, im Frühling, war ich noch einer der besten Ringer in Fürst Toriis Mannschaft. Ich hatte eine herrliche Wohnung auf seinem Anwesen und zehn Diener, die nur für mich da waren. Ich konnte alle Frauen haben, die ich begehrte. Ich bekam die feinsten Speisen und konnte essen, soviel ich wollte. Ich habe gegen die besten Männer gekämpft und sie alle besiegt. Der Shōgun persönlich hat mich zu meiner Kraft und Kampftechnik beglückwünscht.«
    Das war mit Sicherheit maßlos übertrieben. Wäre Raikō ein bekannter Ringer gewesen, hätte

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