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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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dem Gebäude – aber was, wenn er die Tür zu Sanos Zimmer nicht schnell genug aufbekam? Dann würde der Nachtwächter wieder erscheinen und mit seiner Rassel Alarm schlagen. Er würde das ganze Dorf aus dem Schlaf reißen, und die Leute würden wie eine Horde nächtlicher Dämonen über das Grundstück des Gasthofs schwärmen.
    Der heimliche Beobachter sagte sich, daß es wahrscheinlich besser wäre, sich zurückzuziehen und auf eine günstigere Gelegenheit zu warten, seinen tödlichen Schlag zu führen. Morgen, an einem einsamen Straßenstück, zum Beispiel. Oder während der nächsten Übernachtung. Doch das übermächtige Verlangen, die Angelegenheit hier und jetzt zu Ende zu bringen, ließ den Mann hinter der Kiefer verharren. Als der Nachtwächter seine nächste Runde beendet hatte und sich umdrehte, um den Garten durch das Tor zu verlassen, trat der Beobachter hinter dem Baum hervor.
    Seine Hände packten den Hals des Mannes, gruben sich in das weiche, warme Fleisch und drückten mit aller Kraft zu.
    Der Nachtwächter stieß einen erstickten Schrei aus. Sein Körper wurde steif, und er ließ die Lampe und die Rassel fallen. Er krümmte sich, zappelte, trat mit den Beinen und rang keuchend und pfeifend nach Atem. Er hob die Arme und versuchte verzweifelt, die Finger unter die Hände des Angreifers zu drücken, um dessen Griff zu sprengen.
    Doch der Mann hielt den Hals des anderen eisern umklammert; vor Anstrengung preßte er die Zähne zusammen. Er spürte kaum den Schmerz, als die Fingernägel seines Opfers ihm die Knöchel zerkratzten. Schon bald erlahmte der Widerstand des Mannes. Sein Keuchen verstummte, und seine Arme fielen kraftlos herab. Ein letztes Mal bäumte er sich auf; dann wurde sein Körper schlaff. Der Beobachter ließ sein lebloses Opfer zu Boden gleiten, schaute sich rasch um und zerrte die Leiche ins Gebüsch. Dann nahm er die Laterne vom Boden und blies die Flamme aus. Dunkelheit hüllte den Mörder in ihren schützenden Mantel. Ein Gefühl vollkommener Macht stieg im Innern des Mannes auf. Jetzt stand ihm niemand mehr im Wege.
    Er ging durch den Garten zur Tür von Sanos Zimmer.
     
    Stöhnen und Schreie gellten Sano in den Ohren, als er wieder durch die übelriechenden Flure des Gefängnisses von Edo ging. Diesmal war sein Führer nicht Mura, der Eta, sondern Magistrat Ogyū. Der Saum seiner schwarzen Amtsrobe schleifte über den schmutzigen Fußboden.
    Am Ende des Flures blieb Ogyū stehen und schob mit einem Ruck eine Tür auf. »Kommt, yoriki Sano«, rief er. Seine hohe, durchdringende Stimme wurde von den furchtbaren Schreien der Gefangenen beinahe übertönt. »Kommt und erlebt das Schicksal derer, die ihren Befehlen nicht gehorchen und ihre Pflichten nicht erfüllen!«
    Sano wollte nicht weitergehen, wollte nicht wissen, was sich hinter der Tür befand. Doch eine unsichtbare Kraft trieb ihn den Flur hinunter. Beinahe schluchzend vor Entsetzen, fiel er auf die Knie und packte den schwarzen Umhang des Magistraten.
    »Bitte … nein …«
    Ogyū lachte. »Wo sind denn Euer Mut und Stolz als Samurai geblieben, yoriki Sano?« höhnte er.
    Mit einem gewaltigen Tritt schleuderte er Sano durch die Tür, so daß er auf Händen und Knien im dahinterliegenden Raum landete. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, schrie Sano vor namenlosem Schrecken auf.
    Er befand sich in der Leichenhalle. Zu beiden Seiten eines der Seziertische standen Mura und Doktor Itō. Mura hielt ein langes, rasiermesserscharfes Skalpell in der Hand; die untere Hälfte seines Gesichts wurde von einem Tuch verdeckt. Doktor Itō hob die Hand und winkte Sano zu sich.
    Sano trat näher. Und dann wurde ihm schlecht vor Angst.
    Der Tisch war leer. Wartete. Auf ihn.
    »Nein!« schrie Sano.
     
    Leise, verstohlen stieg der Beobachter die Stufen zur Veranda hinauf und blieb vor der Tür zu Sanos Zimmer stehen. Seine Strohsandalen verursachten kein Geräusch, doch bei jedem Schritt knarrten die Holzdielen leise unter seinem Gewicht. Er versuchte, die Tür zu öffnen.
    Abgeschlossen. Der Mann zog den Dolch aus der Scheide, schob die Klinge zwischen Tür und Rahmen und benutzte die Waffe als Hebel. Er drückte so lange, bis der Riegel mit einem scharfen Knacken zersprang. In der Stille klang das Geräusch so laut, daß der Mann vor Schreck beinahe den Dolch hätte fallen lassen. Er erstarrte, lauschte.
    Nur gedämpftes Schnarchen drang hinter der Tür hervor. Das Krachen des Riegels hatte die beiden Schläfer nicht geweckt. Langsam,

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