Der Kirschbluetenmord
vorsichtig schob der Mann die Tür zur Seite. Den Dolch in der Faust, spähte er in die Dunkelheit des Zimmers und sah die beiden Gestalten, die schlafend am Boden lagen und nur schemenhaft zu erkennen waren. – Es war soweit.
Ein lautes, röchelndes Geräusch weckte Sano. Mit einem Schlag waren Ogyū, Mura, Doktor Itō und die Leichenhalle verschwunden. Sano stieß einen heiseren Schrei des Erschreckens aus, als er sich in der Dunkelheit ruckartig aufsetzte. Durch den Nebel der Schlaftrunkenheit sah er eine schattenhafte Gestalt auf sich zukommen. Wieder schrie Sano, diesmal vor grellem Entsetzen, während er instinktiv mit dem Schwert zuschlug, dessen Griff er noch immer gepackt hielt. Die Gestalt sprang zurück, warf sich herum und stürmte aus dem Zimmer. Sanos Schwertklinge verfehlte den Mann, zerschnitt zischend die Luft. Schnelle Schritte ließen die Holzdielen erbeben, wurden rasch leiser und verklangen in der Ferne.
Sano schleuderte die zerwühlten Decken zur Seite und sprang auf, das Schwert kampfbereit in der vorgestreckten Hand. Er war jetzt hellwach und versuchte angestrengt, seine Umgebung zu erkennen und sich zu erinnern, wo er sich befand. Noch immer schlug ihm das Herz bis zum Hals; die gräßlichen Traumbilder vom Gefängnis in Edo und dem bedrohlichen Eindringling waren noch so lebendig wie die Wirklichkeit. In seiner Verwirrung brauchte Sano einen Augenblick, bis er die verschwommenen Umrisse seines Zimmers im Gasthof erkannte. Alles war ruhig und friedlich. Eigentlich hätte die Furcht nun von ihm abfallen müssen, doch er verspürte die beängstigende, schreckliche Gewißheit, daß irgend etwas Furchtbares geschehen war. Jede Faser seines Seins bebte vor Anspannung.
Im Zimmer war es seltsam kalt. Ein eisiger Hauch bewegte die Luft, konnte den durchdringenden, metallenen Gestank aber nicht vertreiben, der Sanos Nasenflügel beben ließ. Und noch ein fremdartiger Geruch lag in der Luft – schwächer und muffig wie getrocknete Kräuter. Er kratzte Sano in Nase und Kehle und ließ ihn niesen. Und dann bemerkte er, daß sich im Zimmer noch etwas verändert hatte. Irgend etwas fehlte.
Tsunehikos Schnarchen. Sano konnte es nicht mehr hören. Die schemenhafte, regungslose Gestalt am Boden gab keinen Laut mehr von sich …
»Tsunehiko?« rief er.
Er beugte sich hinunter, rüttelte den Schreiber sanft. Und stieß keuchend den Atem aus. Ruckartig zog er die Hand zurück. Irgend etwas Warmes, Feuchtes, Klebriges hatte Tsunehikos Decke durchtränkt. Von Entsetzen erfüllt, ließ Sano sein Schwert fallen und tastete hektisch über den Fußboden, auf der Suche nach der Lampe und den Zündhölzern. Seine Hände zitterten so sehr, daß er den Docht erst beim dritten Versuch entzünden konnte. Die Flamme flackerte schwach; dann loderte sie auf und tauchte das Zimmer in helles Licht. Sano blickte auf Tsunehiko hinunter.
Der Schock ließ sein Herz einen Schlag aussetzen; die Worte gefroren ihm auf der Zunge. Mit einem langen, scharfen Zischen füllten seine Lungen sich mit Atem.
Tsunehiko lag rücklings auf seinem Futon. Die Decke war heruntergezogen, so daß sein Hals und die Schultern zu sehen waren. Aus einer klaffenden Wunde an der Kehle strömte Blut, rot und glänzend im Licht der Lampe, und durchnäßte sein Bettzeug und das Nachtgewand. Seine blicklosen Augen starrten zur Decke.
15.
N
ein!« rief Sano. Stöhnend kniete er neben Tsunehiko nieder. Er riß ein Stück Stoff aus seinem Umhang, drückte den Fetzen auf die schreckliche Wunde und versuchte, den Blutstrom zu stillen, der aber schon versiegt war. Er schlug dem Jungen auf die Wangen – ein verzweifelter Versuch, ihn ins Leben zurückzurufen. Doch Sano hatte längst erkannt, daß Tsunehiko tot war.
Plötzlich wurden alle Zusammenhänge deutlich: der nächtliche Eindringling, das laute Röcheln und die Schritte, die sich hastig entfernt hatten. Das alles war kein Traum gewesen, sondern schreckliche Wirklichkeit. Im Halbschlaf, sich der Gefahr nicht bewußt, hatte Sano Tsunehiko aufschreien hören – und sein Röcheln, als der Eindringling ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. Und er, Sano, hatte den Mörder entkommen lassen.
»Nein!«
Trauer und Zorn explodierten in Sanos Brust und entluden sich in einem wilden Schrei, als er an Tsunehikos jugendliche Unschuld und Fröhlichkeit dachte.
Sano zog sich gar nicht erst an; er packte sein Schwert und sprang auf. Er sah den Riegel an der aufgebrochenen Tür erst in dem Augenblick, als er
Weitere Kostenlose Bücher