Der Klabautermann
Manuskript von Hallau in einem Anfall von Schizophrenie zerbissen – dafür sollte man ihm die Hand drücken –, dann wird man doch wohl nicht behaupten wollen, er habe Herrn Hallinsky das Bier ausgesoffen, in der Bäckerei Obsttörtchen geklaut oder turne nachts am Signalmast herum!«
»Die Frage bleibt aber bestehen: Warum soll ein Schizophrener während seines Schubs nicht Bier austrinken, Liegestühle wegräumen, Obsttörtchen stehlen, einen Schal an einen Davit verknoten?«
»Das wäre schon wieder eine sportliche Leistung, zu der Herr Konsul Fehrenwaldt nicht mehr fähig ist«, warf Losse ein. »Das können wir ihm nicht zumuten.«
»Damit kämen wir auf das zurück, was Dr. Schmitz und Hartmann immer vermutet haben: Wir haben es mit zwei Tätern zu tun!« Hellersen holte tief Luft. Es war bedrückend, das jetzt klar zu erkennen. »Dem zweiten Täter muß man auch den gehißten BH zurechnen; das sieht Konsul Fehrenwaldt auch nicht ähnlich.«
»So was möchte ich nun wieder nicht unbedingt sagen.« Dr. Schwengler grinste ein wenig unverschämt. Wenn Männer über solche Dinge sprechen, überzieht stets Fröhlichkeit ihre Gesichter. »Die Grundfrage wäre nämlich: woher bezog der Täter den BH?«
»Das zu klären, ist Beatrice gerade unterwegs.«
»Ein hoffnungsloses Unterfangen.«
»Nicht ganz. Wir haben unleugbare Anhaltspunkte.«
»Sieh an!« Dr. Schwengler nickte Hellersen beifällig zu. »Es scheint, als setze sich da ein Mosaik zusammen.«
»So ist es.« Hellersen blickte auf seine runde Schiffsuhr, die an der Wand hing, ein Geschenk des Kapitänskollegen der EUROPA, mit der zusammen er im Hafen von San Francisco gelegen hatte. »Sie müssen sich beeilen, Doktor, in zehn Minuten beginnt die zweite Tischzeit. Ihre Gattin wird ungeduldig warten und weiß ja nicht, wo sie Sie suchen soll.«
»Ich werde Selma von einem Notfall erzählen. Eine Pulpitis. Der Schiffsarzt hat mich um Hilfe gebeten. Das ist ohne weiteres glaubwürdig.« Dr. Schwengler machte eine leichte Verbeugung. »Wenn mich die Herren noch brauchen sollten, ich stehe jederzeit zur Verfügung.«
Hellersen wartete, bis Losse zurückkam, der Dr. Schwengler bis zum allgemeinen Treppenhaus begleitet hatte. Er ging unruhig hin und her und rauchte wieder. Dieses Mal einen seiner geliebten Zigarillos.
»Was ist Ihr Eindruck, Losse?« fragte er.
»Ich möchte Konsul Fehrenwaldt aus allen Überlegungen streichen, Herr Kapitän.«
»Aber wenn sein Gebiß dem auf dem Papier entspricht?«
»Das muß erst bewiesen werden.«
»Niemand sonst an Bord hat ein solches Gebiß …«
»Der Klabau…«
»Losse!«
»Verzeihung, Herr Kapitän.« Losse nahm von Hellersen ein Glas mit Whisky an und tat einen langen Schluck. »Aber auch, wenn wir Konsul Fehrenwaldt aus dem Verdacht herausnehmen – es bleibt der zweite Täter. Der Unbekannte, der Hartmann die Taurolle auf den Kopf geworfen hat. Der Bier austrinkt, im Magazin und der Bäckerei klaut, nachts herumschleicht, Bananenschalen liegenläßt.«
»Und das ist, ich möchte darauf wetten, ein ›Blinder‹!« sagte Hellersen fest. »So verhält sich nur jemand, der Hunger und Durst hat und sich nimmt, was er gerade kriegen kann. Verdammt noch mal, wir werden doch wohl in der Lage sein, einen ›Blinden‹ aufzustöbern. Es gibt doch keinen Winkel in dem Schiff, den wir nicht kennen.«
»Er wird den alten Trick anwenden, jeden Tag woanders zu sein. Mal schläft er in einem Rettungsboot, mal auf dem FKK-Deck, dann in einer der Deckkammern, wo die Auflagen für die Liegestühle und die Handtücher aufbewahrt werden. Selbst die Decktoiletten sind ein guter Unterschlupf, denn auf die geht in der Nacht niemand mehr … es gibt eine Menge Stellen, Herr Kapitän.«
»Dann werden diese Stellen ab sofort jede Nacht mehrmals kontrolliert! Wozu habe ich eine Mannschaft von 350 Seelen an Bord?«
Losse verzichtete darauf, Hellersen zu erklären, was diese 350 Menschen im Laufe solch einer Luxusreise alles leisteten, vom frühen Morgen bis zum frühen Morgen, also rund um die Uhr. Zwar in mehreren Schichten, aber immerhin … 600 Passagiere zu verwöhnen, das ist schon eine anstrengende Arbeit. Es heißt, unzählige und unglaublich launenhafte Ausfälle zu ertragen und dabei immer höflich, immer dienstbereit, immer lächelnd zu bleiben. Das Trinkgeld, das man dann – reichlich – bekommt, hat man ehrlich verdient. Wenn aber nun noch angeordnet wurde, zusätzlich Nachtwachen zu übernehmen und an
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