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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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begann, war ihm das ebenso natürlich erschienen wie ihre Verwandlung von einem Kind in eine schlanke, junge Frau, die sich häufig zu einem Besuch oder zum Unterricht einfand.
    Sie wählte ihre Worte mit Bedacht und sprach nur, wenn es nötig war. Ihre Ruhe spendete ihm Trost. Sie erinnerte ihn an das gemeinsame Schweigen mit Bal.
    »Aber Martin, Tulsi hat doch schon immer gesprochen. Sie spricht auch jetzt noch mehr mit ihren Augen als mit dem Mund. Du musst nur hinschauen.«
    »Aha.« Martin nahm sich etwas Blumenkohl, bevor er das Gemüse an Kalu weiterreichte. »Sie spricht also mit den Augen. Ich bin sicher, du bist der Einzige, der das sieht.« Er musterte Kalu mit hochgezogenen Brauen, aber dieser war tief in Gedanken versunken.
    Nach Bals Tod hatte Tulsi ihm stärkeren Trost gespendet als alle anderen. Sie kannte den Zorn und auch die Trauer, die er empfand, denn sie wusste, wie es sich anfühlte, einen nahestehenden Menschen zu verlieren. Er merkte, dass er sich immer darauf freute, mit ihr zusammen zu sein. Kalu konnte aus ihrem Gesang ihren Schmerz und ihre Sehnsucht, aber auch ihre Freude am Leben heraushören. Sie ging sparsam mit Worten um, aber es fiel ihm nie schwer zu verstehen, was sie sagen wollte.
    Kalu wusste, dass der Vaid noch immer verärgert war, weil er sich weigerte, ihm zu helfen, Bals Vater ausfindig zu machen, um ihn vom Tod seines Sohnes zu unterrichten. Doch Kalu war jetzt erwachsen; er ließ sich nicht zu etwas zwingen, was er nicht wollte. Er blieb standhaft. Ganz gleich, was seine Grün
de gewesen waren: Bals Vater hatte seinen Sohn in die Sklaverei verkauft. Tulsi verstand ihn, und als sie Kalus Partei ergriff, gab der Vaid auf.
    *
    Es begann, als er sie auf dem Markt sah. Sie feilschte um den Preis von Auberginen, als wäre nichts geschehen. Ein Windstoß ergriff das Ende ihres Saris, das nun ein Stück ihres wachsenden Bauches freigab, ehe der Stoff ihn wieder verhüllte. Eine winzige Bewegung, die ihn erstarren ließ. Dass seine Frau einfach so hier stand. Lebendig. Damit der Wind mit ihren Kleidern spielen konnte, wie sie mit Gott weiß wie vielen Männern. Die Knie wurden ihm weich vor Zorn, und er musste sich an dem Stand neben ihm festhalten.
    Sie war seine Frau. Wie konnte sie es wagen, ihm das anzutun, ihn zum Gespött zu machen? Er war es, der das Geld nach Hause brachte. Sie war nur ein Mädchen vom Land. Ungebildet, unwissend. Seine Frau. Ob er sie gewollt hatte oder nicht.
    Zuerst dachte er daran, sie zur Rede zu stellen. Vor all den Leuten auf dem Markt. Als die Schlampe bloßzustellen, die sie war. Aber der Wind schien seine Stimme mit sich fortgetragen zu haben. Seine Kehle war ausgedörrt und wie zugeschnürt. Kein Laut kam aus seinem geöffneten Mund.
    Er beobachtete, wie sie durch den Markt und zurück zum Haveli ging. Er registrierte jede Bewegung ihres Kopfes. Das stille Lachen, wenn sie jemandem begegnete, den sie kannte. Wahrscheinlich lachten sie alle über ihn. Sie hatte kein Recht, ihm das anzutun. Nicht das geringste.
    Er hatte die Leute tuscheln gehört. Es ging um diesen Flötenspieler und auch andere, aber er hatte alles als eifersüchtigen Klatsch abgetan. Doch dann hatte sie sich verändert. In den vergangenen Monaten hatte sie sich ihm verweigert. Angefangen, ihm in die Augen zu schauen, was sie früher nie getan hatte.
    Er hatte sie nie gewollt, und sie hatte Glück gehabt, überhaupt
einen Mann wie ihn zu bekommen. Er war es, der sich mit einem ungebildeten Mädchen vom Dorf hatte abfinden müssen. Und er war der Einzige, der sie berühren durfte. Sie gehörte ihm und niemandem sonst. Darum ging es in der Ehe.
    Er folgte dem Schwung ihrer Hüften, die sich in ihrem eigenen Rhythmus bewegten, bis sie in der Menge verschwand. Sein Zorn wuchs.
    Er machte kehrt und ging zurück in den Ort. Morgen würde er nach Hause zurückkehren. Dann würde es ihr leidtun.
    *
    Irgendetwas stimmte nicht. Etwas lag in der Luft, Kalu konnte es förmlich riechen. Das Licht an diesem Morgen und sein Gesicht im Spiegel wirkten so anders. Es war, als wäre er allein, als beobachte er die Welt, statt am Leben teilzuhaben. Das Gefühl hielt den ganzen Tag an, wurde sogar immer stärker, bis er sich wie von seiner Umgebung abgeschnitten fühlte. Getrennt von allen anderen.
    »Du denkst doch an ein Mädchen, oder?«, fragte ihn Ashwin und stellte ihm noch etwas zu essen hin.
    Kalu starrte die verblichene, weiße Wand an, ohne das Essen und Ashwins Fragen zu beachten.
    Auch

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