Der Klang der Sehnsucht - Roman
später beim Unterricht war er außerstande, sich zu konzentrieren.
»Da stimmt etwas nicht«, sagte Kalu und schaute das erste Mal an diesem Tag auf.
»Nun, dessen bin ich mir bewusst, mein Sohn«, sagte der Guruji, »aber das Problem ließe sich vielleicht lösen, wenn du besser aufpassen würdest.«
»Nein, es passiert etwas wirklich Schlimmes.«
Der Guruji musterte Kalu, dessen Augen fast blau erschienen. Verschleiert, als hätte er Bhang getrunken. »Weißt du, was es ist?«
»Nein.«
»Dann solltest du es herausfinden. Vorher bist du ohnehin zu nichts zu gebrauchen. Aber geh nicht zu weit weg. Nicht in diesem Zustand.« Der Guruji wusste nicht, ob Kalu das Ende seines Satzes noch hörte, da er sofort, die Flöte noch in der Hand, durch eines der hohen Fenster auf die Veranda stieg.
Er ließ sich unter dem Gulmohar-Baum nieder und lehnte sich an den Stamm. Für gewöhnlich rieb er sich den Rücken an der Rinde, um seine verspannten Schultern zu lockern. Sacht strich er über seine Flöte und versuchte, sich das Unbehagen zu erklären, das seinen Körper von den Narben an seinem Knöchel bis hinter die Augäpfel durchzog.
Kalus Blick schweifte über den Garten zu der kleinen Butterlampe, die er stets für Bal brennen ließ. Die Flamme flackerte im Licht der untergehenden Sonne, die die Wolken mit ihrem Rot durchtränkte. Die tiefrote Farbe erinnerte ihn an Maltis Hochzeitssari. Sie hatten sich seit Bals Tod nicht gesehen. Kalu wusste, dass er eines Tages nach Hastinapore zurückkehren würde. Aber bis dahin würde noch viel Zeit vergehen. Im Moment wäre ein Besuch zu schmerzhaft für ihn. Ganga Ba schrieb ihm noch immer, und erst neulich hatten sie telefoniert. Malti war auch dort gewesen, hatte aber keine Zeit gehabt zu reden. Sie müsse schnell nach Hause.
Kalu setzte sich zurecht und begann zu spielen. Raga Shri. Die erhabenen, ruhigen Klänge des meditativen Raga erinnerten ihn an Malti.
Sie führten ihn zurück zu dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Nach seinem ersten Botengang für Gang Ba hatte Malti ihm Milch gebracht. Sie hatte seine knochige Schulter befühlt und ihn dann überredet, sehr langsam und im Sitzen zu trinken. Es war das erste von vielen Malen gewesen, dass sie ihn auf diese Weise berührt hatte, um sich zu vergewissern, dass es Kalu gutging. Selbst jetzt noch, nach all den Jahren, tat sie es. Lange Zeit waren Malti und Bal die einzigen Menschen gewesen, denen er gestattet hatte, ihn zu berühren.
Sein Spiel wurde munterer.
Malti war ein fröhliches Mädchen gewesen, nie so verrückt wie Ashwin, aber immer zu einem Lächeln bereit. Jetzt als Frau war sie viel stiller. Fast zu ernsthaft. Selbst ihren Briefen schien es an Elan und Mut zu fehlen. Er wusste, wie sie sprach, wenn sie glücklich war und wenn sie traurig war. Der Tonfall ihrer Briefe war zu kontrolliert. Zu korrekt. Es lag keine echte Freude oder Anteilnahme darin.
Als er noch jünger war, dachte Kalu, es läge daran, dass Malti nun verheiratet war. Mit zunehmendem Alter erkannte er jedoch, dass sie sich ganz anders verhielt als andere Frauen. Im Laufe der Jahre schien Malti sich ganz in sich zurückgezogen zu haben.
Malti sprach über ihre Schwiegereltern, ihre Eltern, Ganga Ba und ihre Freundinnen. Nur ihren Mann erwähnte sie kaum. Er hatte geglaubt, dass sich das mit der Zeit ändern würde. Aber seine Flöte schien es besser zu wissen. Offenbar war alles viel schlimmer geworden. Kalu wusste nicht, was er tun sollte. Wie er Malti helfen konnte. Oder ob sie überhaupt Hilfe wollte.
Immer intensiver wurde die Hitze, die von seinen Zehen ausgehend in ihm aufstieg, bis sie ihm den Atem nahm und sogar die Töne scharf und kurz herauskamen, als müssten sie gleich verglühen.
Er zwang sich, tief Luft zu holen, um seinen Atem zu kühlen und die Töne weicher und länger zu spielen. Allmählich verselbständigte sich die Musik zu einem Wechselspiel zwischen Feuer und Wasser. Licht in der Dunkelheit. Er sandte Malti Mut und Kraft. Macht. Die Macht von Shri, der großen Mutter. Hände, die Malti stützten, selbst in dem Monsun, den er heraufbeschwor. Er spielte, bis das Feuer in ihm sich legte und das Brennen auf seiner Haut nachließ.
Kalu sank gegen den Baum. Die Sonne war inzwischen untergegangen. Dhruv-Tara, der Stern, von dem Malti ihm vor so vielen Jahren erzählt hatte, stand am Himmel, und Kalu spürte
die Kraft des Baumes durch sein schweißnasses Hemd. Er hoffte, dass sein Spiel Malti geholfen hatte
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