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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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dass er auch Boxer war?«
    »Muss ich ebenfalls boxen lernen?« Nichts konnte Kalu noch überraschen.
    »Nein, aber du übst deine Yoga-Asanas und wirst dich ganz deiner Flöte widmen.«
    »Wann darf ich auf ihr spielen?«
    »Wenn deine gespreizte Hand so groß ist wie eine Lotusblüte am vierten Tag.«
    »Aber der Lotus blüht ja noch nicht einmal!«
    »Wie immer nimmst du alles zu wörtlich. Lass dir Zeit, Kalu.«
    Kalu biss sich auf die Lippe, um nicht zu widersprechen. Sein Lehrer wusste, wie enttäuscht er war. Wie sehr er sich wünschte, seine Flöte auszuprobieren. Kalu wünschte, er hätte sie damals bei Ganga Ba gespielt, als er die Gelegenheit dazu hatte.
    Der Guruji sah Kalu an, was er empfand. Er nickte. »Auf dieser Flöte kannst du erst spielen, wenn du deine Finger so weit spreizen kannst, dass sie die Öffnungen ganz abdecken. Bis dahin arbeitest du mit einer kleineren Flöte. Warum meine und deine Zeit mit einem Instrument verschwenden, dem dein Körper noch nicht gewachsen ist?«
    Kalu ballte die Fäuste und öffnete sie langsam wieder.
    »In seiner Anfangszeit war Pannalal als Trunkenbold und Schürzenjäger bekannt. Bis zu der Nacht, in der der Mann einer seiner Geliebten früher nach Hause kam. Um nicht erwischt zu werden, sprang Pannalal aus dem Fenster, griff nach einem dort hängenden Seil und ließ sich daran hinunter. Erst als er unten ankam, erkannte er, dass das Seil in Wirklichkeit eine Schlange gewesen war.
    Er rührte nie wieder einen Tropfen Alkohol an und hielt sich von den Frauen anderer Männer fern. Fortan standen für ihn stets seine Flöte und die Musik an erster Stelle.
    Die Flöte galt nicht als ernsthaftes, klassisches Instrument, son
dern eher als einfach und volkstümlich. Erst als Pannalal sich mit all seiner Kraft ihrer annahm, begann die Musikwelt sie ernst zu nehmen.«
    »Wie Sie, Guruji. Sie legen auch Ihre ganze Kraft in Ihr Spiel.«
    Der Meister runzelte die Stirn. »Nein, ganz und gar nicht wie ich. Ich wollte alles. Ich kann dich die Theorie hinter deinem angeborenen Talent lehren, Kalu. Ich kann dich den ganzen Tag üben lassen. Doch was du für deine Flöte aufgeben musst, das kann ich dir nicht sagen. Irgendetwas musst du bestimmt aufgeben. Denn alles im Leben hat seinen Preis.«
    Der Blick des Guruji spiegelte sich in den Augen des Jungen. »Ich werde es mir merken«, sagte Kalu.
    Der Guruji nahm seine Hand und drehte sie, so dass die Handfläche nach oben zeigte. »Deine Hände sind vielleicht noch nicht so groß wie die von Pannalal, aber aus diesen Fingern wird einst deine Musik entstehen.«
    Später saß Kalu auf den Felsen über dem Haus und dehnte und bog seine Finger, bis sie zitterten. Währenddessen ließ er den Rest der Stunde an sich vorüberziehen. In ihr hatte der Guruji ihm beigebracht, wie man die Töne modulierte, indem man die Finger auf eine bestimmte Weise über die Öffnungen gleiten ließ.
    »Das nennt man Meend.« Der Guruji ließ einen Moment verstreichen. »Jetzt, sieh her.« Er nahm Kalus Flöte und spielte einen tiefen, sauberen Ton. Dann bewegte er ganz leicht die Fingerspitze, so dass der Ton sich änderte. Auf diese Weise fuhr er fort, bis er jede Tonnuance zwischen dieser und der nächsten Oktave hervorgebracht hatte. Dem Spiel seiner Finger folgend schwebte ein gewundener Flötenton durch den Raum.
    Kalu atmete tief ein und ließ seine zitternden Hände einen Moment ruhen, eher er wieder mit seinen Dehnübungen begann.
    *
    Als der Junge Ashwin das erste Mal aus eigenem Antrieb berührte, schrak dieser regelrecht zusammen. Schimpfte mit gespieltem Entsetzen, stopfte Kalu mit Süßigkeiten voll und wischte sich ein paar Tränchen »vom Zwiebelschneiden« aus den Augen.
    Acht Monate waren vergangen, und Kalus Wirbelsäule wurde immer geschmeidiger. Nach und nach verlor Kalu seine Hemmungen, bis sie schließlich ganz dahinschmolzen. Seine Haut gewöhnte sich daran, berührt zu werden, und wenn Ashwin ihn unter dem Kinn kitzelte, lachte er nun, statt zurückzuweichen.
    Ashwin achtete darauf, den Jungen möglichst oft zu berühren. Wie dem Vaid war ihm klar geworden, dass dieses Kind auf mehr als eine Weise genesen musste. Der Guruji kümmerte sich um den Verstand und die körperliche Kraft des Jungen, aber Ashwin wusste, es würde länger dauern, bis der leere Blick aus Kalus Augen verschwand.
    Ashwin lächelte. Kalu hatte wieder Leben ins Haus gebracht, auch wenn er selbst davon nichts ahnte.
    *
    Jeden Morgen gingen die Mädchen

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