Der Klang der Sehnsucht - Roman
kleine Pause. »Nun ja, Sie sind nicht die Einzigen, die an ihr interessiert sind«, sagte Ganga Ba. »Ich bin selbst sehr angetan von ihr. Außerdem bin ich der Ansicht, dass alle Frauen eine gute Ausbildung erhalten sollten. Daher wird Malti auch künftig jede Woche zwei Stunden zu mir kommen.« Sie nickte, als wäre das, was sie gerade gesagt hatte, das Normalste der Welt. »Mit Geld hat das nichts zu tun.« Ganga Bas Ton duldete keinen Widerspruch.
»Unsere Frauen arbeiten nicht«, sagte der Mann.
»Das ist keine Arbeit – sie leistet mir Gesellschaft. Sehen Sie es doch mal so. Alle Frauen sollten ungeachtet ihrer Stellung die Gelegenheit haben zu lesen.«
Mühsam unterdrückte Malti ein Lächeln. Sie wusste, dass die Leute Ganga Ba nicht gewachsen waren, aber das war ja ohnehin niemand. Auch wenn Ganga Ba nicht zu beneiden war –
sie hatte niemanden, der sich um sie kümmerte. Sie wurde alt, und ihre Familie lebte weit fort. Doch als sie nun sah, wie dieses Ehepaar sich unterordnete, und zwar nicht wegen ihrer Weisheit, sondern wegen ihrer Stellung, wünschte Malti, sie hätte ebenfalls die Macht, zu tun, was ihr beliebte, ohne Rücksicht auf die Gesellschaft nehmen zu müssen.
Aber dann musste sie an Ganga Bas Tochter denken, die man weit fort nach Amerika geschickt hatte und die inzwischen mehr Amerikanerin war als Inderin. Und an Kalu, der gar keine Familie hatte. Ihr wurde klar, dass sie, die kleine, unscheinbare Malti, mehr Glück hatte, wenn andere über sie bestimmten.
Vielleicht war sie ja auch gar nicht so unscheinbar. Sie zog ihren Sari um sich und wartete auf die Entscheidung.
*
Ganga Ba beschloss, Kalu von Maltis bevorstehender Hochzeit zu schreiben und nicht bis zu seinem nächsten Besuch zu warten. Ganga Ba wusste, dass es ihm wichtig wäre, von Maltis Hochzeit zu erfahren. Sie hatte eine energische, kraftvolle Schrift, die nicht weniger deutlich war als in ihrer Jugend. Mit fünfzehn hatte sie ihre Handschrift bewusst kultiviert, nachdem sie gehört hatte, dass Wahrsager die Persönlichkeit und die Zukunft eines Menschen aus seiner Schrift vorhersagen konnten. Sie entwickelte eine klare, schmucklose Handschrift, damit sie als ein Mensch mit fest umrissener Persönlichkeit erkannt wurde, falls jemand ihre Schrift deutete. Schnörkel waren nicht ihr Stil.
Als sie den Brief fertig hatte, sah sie hinaus in den Hof, wo Malti die Töpfe scheuerte. Sie war ein braves Mädchen. Sie würde tun, was man ihr sagte. Schon deshalb würde Ganga Ba ihr Möglichstes für sie tun. Sogar die Mühe, ein neues Mädchen einzuarbeiten, würde sie auf sich nehmen.
Ganga Ba spielte eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen
und hatte beschlossen, auch an der Hochzeit teilzunehmen, was einen großen Umstand für sie bedeutete. »Würde V. P. noch leben, wäre alles viel leichter«, beklagte sie sich bei ihren Freundinnen. »Aber nun muss ich der Ehrengast sein. Es ist wichtig für Malti, mit einer höher gestellten Persönlichkeit aufzuwarten. Besonders, wenn sie sich so gut verheiratet. Ihre Familie ist so froh, dass ich teilnehme. Da konnte ich doch nicht ablehnen, nicht wahr? Alles war so viel einfacher, als V. P. noch da war. Männer machen das Leben einfacher. Er hätte sich um alles gekümmert.« Ganga Ba sprach mit solcher Überzeugung, dass sie am Ende des Nachmittags fast selbst daran glaubte.
Seit Kalus letztem Besuch vor fast zehn Monaten war das Leben recht langweilig verlaufen. So sorgte Maltis Hochzeit zumindest für ein wenig Abwechslung. Die Feierlichkeiten mochten Ganga Ba lästig sein, doch für Malti waren sie der symbolische Beginn eines neuen Lebens. Ganga Ba dachte an ihre eigene Hochzeit. An ihre Furcht, aber auch ihren Stolz darüber, auserkoren worden zu sein. An das Leben in ihrer neuen Familie. Sie hatte früher Gayatri geheißen. Aber so hieß schon ihre Schwägerin, also hatte man ihren Namen in Ganga geändert. Sie erinnerte sich, dass sie sich orientierungslos gefühlt hatte, so als hätte die Welt sich irgendwie verändert. Sie hatte lange gebraucht, um sich an das neue Haus, die neuen Gerüche und ihren neuen Namen zu gewöhnen.
Ganga Ba kicherte bei der Erinnerung an diese erste Zeit. Sie war ein beherztes Mädchen gewesen, kein verwöhntes Fräulein, sie war selbstbewusst und überzeugt, dass ihr gewisse Freiheiten zustanden. Sie war schon immer sehr geradeheraus gewesen. Glücklicherweise war ihre Schwiegermutter eine geduldige Frau. Von V. P. konnte man das nicht
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