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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Monate lang in der kleinen Wohnung gehaust haben, die der Kollege meines Vaters uns überlassen hatte. Ich habe nicht gespürt, wie die Zeit verging, obwohl ich mir jeden Tag von neuem sicher war, dass ich irgendwann zwischen Mittag und Schlafengehenszeit vor Altersschwäche sterben würde. Wir sangen nicht mehr, jedenfalls nicht mehr alle zusammen. Ruth summte vor sich hin, schimpfte ihre Puppen aus und ermahnte sie zur Ruhe. Manchmal legte Pa eine Schallplatte auf. Jonah und ich verbrachten lange Nachmittage vor dem Radio. Radiohören kam uns nicht ganz so sündhaft vor, es war etwas von außen Auferlegtes, nichts, was wir aus eigenem Antrieb taten.
    Nach einer Weile kehrte Ruth in die Schule zurück. Am ersten Tag brüllte sie, weigerte sich, die Wohnung zu verlassen. Aber wir drei Männer blieben hart. »Es muss sein, Ruth. Hinterher fühlst du dich besser.« Als hätten wir nicht gewusst, dass Besserfühlen das Letzte war, was sie
    wollte.
    Jonah weigerte sich rundheraus, nach Boston zurückzukehren. »Da gehe ich nicht mehr hin. Nicht für alle Privatstunden der Welt.« Pa zuckte nur resigniert mit den Schultern. Und so kehrte ich natürlich auch nie zurück. Auf den Gedanken, dass ich allein gehen könnte, kam keiner.
    Pa nahm seine Lehrtätigkeit in Columbia wieder auf, nach einer Zeit, die für ihn eine Ewigkeit gewesen sein muss. Jonah schäumte vor Wut. »Das war's also? Alles wieder normal? Er marschiert zur Arbeit, als wäre nichts geschehen?«
    Aber an der Art, wie er die Schultern hängen ließ, wenn er zur Tür hinausging, sah ich, dass nichts normal war. Ihm war nichts mehr geblieben außer seiner Arbeit. Und vom Augenblick von Mamas Tod an hatte sogar seine Arbeit sich verändert. Die Zeit, dieser massive Block aus Ewigkeiten, diese umkehrbare abhängige Variable, hatte sich gegen ihn gewandt. Er wusste nicht mehr, wie viel noch übrig war. Vom Augenblick des Feuers bis zu seinem eigenen Tod widmete er sein Leben ganz der Suche nach der Zeit und der Hoffnung, sie zu überwinden.
    Wir lebten in dem engen, geliehenen Apartment, bis dem Eigentümer nichts anderes übrig blieb, als es zurückzufordern. Wir zogen uns recht planlos in ein anderes, kaum größeres zurück, ebenfalls in Morningside Heights. Wir waren so unsichtbar dort, wie wir nur werden konnten, in einer Straße, die genau auf der Grenze zwischen Schwarz und Weiß lag. Keiner Linie eigentlich, sondern einer Reihe von Wellen, die immer in Bewegung war. Denn die Universität stand wie ein gewaltiger Fels in der Brandung des im Umbruch begriffenen Viertels, der brodelnden Vielfalt der Völker, die kein Mathematiker hätte berechnen können. Vom Geld der Versicherung kaufte Pa neue Möbel, hellblaues Geschirr, das Mama sicher gefallen hätte, und ein neues Spinett. Er versuchte sogar, unsere Notensammlung zu rekonstruieren, aber das war ein aussichts-loses Unterfangen. Nicht einmal zu viert hätten wir ein Inventar der Stücke zusammengebracht, die wir besessen hatten.
    Ruthie kam auf eine andere Schule, auf eine, auf der genau wie bei ihr die Farben fast fünfzig zu fünfzig verteilt waren. Sie schloss Freund-schaften – fast jede Woche kam eine neue Nationalität hinzu. Aber nach Hause brachte sie nie jemanden mit. Sie schämte sich für ihre drei Männer, die dort hausten, als gebe es kein Morgen und erst recht kein Gestern für sie.
    Anfangs kam Pa meist am Nachmittag nach Hause. Aber der Wunsch, sich in die Arbeit zu verlieren, gewann bald die Oberhand gegenüber dem Streben, mit uns unseren Verlust zu verarbeiten. Er stellte eine Frau an, Mrs. Samuels, die den Haushalt versorgte und auf Ruth aufpasste, wenn sie um halb vier nach Hause kam. Das einzige Instrument, das Mrs. Samuels beherrschte, war die Hammondorgel, und so gab es keine Musikstunden mehr. Pa hat sie gewiss für ihre Zeit gut bezahlt, aber ich glaube, im Grunde tat sie es aus Liebe. Sie wäre gern die Freundin seiner Kinder gewesen.
    Jonah verbrachte ganze Tage über seinem Notizbuch und schrieb. Manchmal waren es Worte, manchmal Noten auf dem linierten Papier. Er schrieb einen langen Brief auf einem ganzen Sortiment von Bögen und schickte ihn nach Europa, nach Italien, mit exotischen Luftpostmarken frankiert. »Dann kann sie nicht sagen, sie hätte nicht gewusst, wo sie mich erreichen kann«, sagte er. Meine eigenen Briefe schrieb ich nur in Gedanken, denn einen Ort, an den ich sie schicken konnte, hatte ich nicht.
    Wenn er nicht schrieb, hörte Jonah sich

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