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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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der Audubon-Ballsaal, wo Malcolm X sterben wird. Schon jetzt führt eine ganze Million Lebenslinien dorthin. Schon jetzt geschieht dieser Mord – hier in diesem Block, dem nächsten, eine Meile weiter, in fernen Gefängnissen. Jahrzehntelang wird das Gewebe der Fäden, die zum Mord führen, immer dichter, und mein eigener Faden ist ein Teil davon.
    Wir nehmen die U-Bahn-Treppen, steigen hinab zum stinkenden Mittelpunkt der Erde, zu dem Geruch von Erbrochenem, Zeitungspapier, Zigarettenstummeln und Urin. Pa hält wieder einen seiner Vorträge, über Spiegel und Lichtstrahlen und Leute in entgegenkommenden Zügen, Zügen, die uns binnen Sekunden nach Berlin bringen könnten. Auf dem Bahnsteig ist eine Prügelei im Gange. Pa führt uns sicher vorbei und redet ununterbrochen weiter.
    »Ich war schon vier Jahre auf der Welt«, sagt er, »vier ganze Jahre, bevor zum ersten Mal jemand Raum und Zeit als Einheit begriff. Vier ganze Jahre war ich auf der Welt, bevor jemand sah, dass die Schwerkraft die Zeit krümmen kann! Dazu brauchten sie die Juden!« Die Familie, von der er uns so wenig erzählt hat. Alle tot.
    Jahre vergehen. Mehr als dreißig davon. Ich stehe auf dem Frankfurter Bahnhof. Wir sind auf Tournee mit Voces Antiquae. Jonah sieht einen Stand und schickt mich los, Mandeln kaufen. Und erst da geht mir auf: Ich habe ja den magischen Stoff, aus dem das Mandelbrot gebacken wird, mein ganzes Leben lang gekannt. Man kann ihn überall kaufen, und er kostet nicht mehr als Jahre.
    Wenn es kein einzelnes Jetzt gibt, dann kann es auch kein einzelnes Damals geben. Und doch gibt es diesen Sonntag im Frühjahr 1949. Ich bin sieben. Alle, die ich liebe, sind noch am Leben, alle außer denen, die schon vor meiner Zeit gestorben waren. Wir sitzen beisammen auf den harten U-Bahn-Sitzen, Jonah und ich und Pa zwischen uns.
    »War es ein Vergnügen, Jungs?« Boys gereimt auf choice. »Hat es euch gefallen?«
    »Pa?« Nie wieder habe ich Jonah so verträumt erlebt, so weit fort. Er ist mit einer Rakete unterwegs und lässt diesen rückständigen Planeten hinter sich. Aber als er zurückkommt, ist die ganze Welt vergangen, und er ist als Einziger noch da. »Pa, wenn ich groß bin?« Man kann nicht sagen, dass er um Erlaubnis fragt, aber doch etwas in dieser Art. Stellt sicher, dass keiner später sagen kann, er hätte es nicht gewusst. »Wenn ich groß bin?« Er deutet in die Richtung, aus der wir kommen, zu den Cloisters, die mit jedem Schritt weiter hinter uns zurückbleiben. »Dann will ich das machen, was die Leute da gemacht haben.«
    Die Antwort meines Vaters verblüfft mich, allerdings damals noch
    nicht so sehr wie heute. Heute, nach einem halben Jahrhundert, verstehe ich sie überhaupt nicht mehr. Jeder Blutsverwandte von ihm, wir ausgenommen, ist tot, umgebracht wegen Teilnahme an der Relativitätsverschwörung. Auch er sollte eigentlich tot sein, aber er ist noch da. Ein Dutzend Jahre Immigrant, und schon ist er ein waschechter Amerikaner geworden. »Ihr zwei«, antwortet er und grinst, das Einzige, was er dazu sagt. »Ihr könnt alles werden, was ihr werden wollt.«

MEIN BRUDER ALS ORPHEUS
     
    Das Feuer hat sie nicht umgebracht, sagte Pa.
    »Sie hätte lange vorher das Bewusstsein verloren. Ihr müsst bedenken, wie schnell so ein Feuer den Sauerstoff verbraucht.« Lange, bevor die Flammen sie berührten, hätte das Feuer sämtliche Luft aus unserem Haus gesaugt gehabt. »Und dann noch die Explosion.« Der Heizkessel, die Zeitbombe. »Sie wäre ohnmächtig gewesen.« Deswegen war sie auch nicht aus dem Haus gekommen. Mitten am Tag, stark und geistesgegen-wärtig, wie Mama war, und trotzdem kommt sie als Einzige um.
    Sie kann nichts gespürt haben, das wollte Pa sagen. Er wollte uns trösten. Gewiss, das Feuer hatte sie verbrannt. Nichts außer verkohlten Knochen, außer Asche und dem Ehering war geblieben. Was Pa an Trost zu bieten hatte, war weit weniger: Das Feuer hatte sie nicht umgebracht. Sie war schon tot, als sie verbrannte.
    Trotzdem erinnerte er uns immer wieder daran, immer wenn er das Gefühl hatte, dass wir eine Erinnerung nötig hatten. Das Feuer hat sie nicht umgebracht. Jonah hörte dann: Schon tot, bevor die Feuerwehr überhaupt da war. Ich hörte: Erstickt, die Lungen ringen nach Luft, genauso schlimm, als wenn sie verbrannt wäre. Ruthie hörte: Noch am Leben.
    Lange Zeit taten wir vier gar nichts. Zeit war für uns nur eine weitere gesichtslose Leiche, bewusstlos von der Explosion. Wir müssen fünf

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