Der Klang der Zeit
hervorkriechen und einen kleinen Blick davon erhaschen wollen, wie die Welt vor dem Zusammenprall der Kontinente war, als die Kunst uns alle noch als Einheit sah.
Wir gehen zurück zur 191. Straße, und von da nehmen wir die Untergrundbahn. Ich weiß nicht mehr, wie wir von den Cloisters hierher gekommen sind. Ein Stück in meiner Erinnerung fehlt, Szenen, die in der Endfassung des Films herausgefallen sind. Das Konzert ist vorüber, aber die Töne werden immer noch lauter in meinen Ohren. Auch jetzt wieder, genau wie in dem Musikstück selbst. Kaum haben die klaren, hohen Stimmen die Melodie ausgebreitet, schon greift der Bass sie auf und schmückt sie aus.
Für den Rückweg nehmen wir eine andere Route. Einen Moment lang gerate ich in Panik. Dann bin ich fasziniert, dass Süd und Ost an exakt die gleiche Stelle zurückführen kann wie Nord und West. Jonah lacht über mich, aber Pa nicht. Für ihn ist das genauso wenig selbstverständlich. »Der Raum ist kommutativ. Es spielt keine Rolle, in welcher Reihenfolge man die Bewegungen ausführt. Aber ich habe keine Ahnung, warum das so ist!«
Wir kommen an einem Haus vorbei, mit dem etwas nicht stimmt. »Was ist das, Pa?« Ich bin froh, dass Jonah fragt. Ich traue mich nicht.
Pa bleibt stehen und sieht es sich an. »Das ist eine Schul. Eine Synagoge. Genau wie die, die ich euch auf der Hundert –«
Pa merkt es nicht. Aber diese Synagoge ist anders als die, die er uns gezeigt hat. Ich versuche zu lesen, was da an die Tür geschmiert steht, aber sie haben so gründlich geschrubbt, dass es fast nicht mehr zu sehen ist. Ich frage Pa, aber er hilft mir nicht, es zu entziffern. Sein einziger Kommentar lautet: »Christian Front. Wer hätte gedacht, dass solche Leute heute wieder aus ihren Löchern hervorkommen?«
»Pa hat heute gesagt«, lästere ich, und Jonah greift den Spott auf. Aber Pa verzieht nur kurz die Miene. Er fasst uns jeden an einer Hand und marschiert weiter. Er achtet genau auf den Bürgersteig, als sei er zu dem Schluss gekommen, dass die Fugen darin doch gefährlicher sind, als er dachte.
Als wir einen Häuserblock entfernt sind, sagt er: »Hitler nannte es ein jüdisches Komplott.«
»Was hat er so genannt?«, fragt Jonah. »Und was ist ein Komplott?«
»Die Relativität.«
»Was ist Relativität?«, frage ich.
»Jüngele! Das, wovon wir reden! Die Uhren, die alle unterschiedlich gehen.«
Für mich ist seither eine Ewigkeit vergangen. Aber ich möchte, dass er weiterredet, am liebsten für immer. Also frage ich: »Warum?«
»Warum was?«
»Na, was du gerade gesagt hast, Pa.« Aber gerade bedeutet nicht gerade für meinen Vater, den Professor für fließende Zeit. »Wieso hat Hitler gesagt, dass es jüdische Uhren sind?«
»Na, weil das stimmte!« In seinen Augen blitzt ein schelmischer Stolz auf, eine Regung, die man nur selten dort sieht. »Die Juden waren die Einzigen, die darauf gekommen sind, dass alles, was wir über Raum und Zeit für selbstverständlich halten, in Wirklichkeit überhaupt nicht so ist! Die Juden waren überall und haben sich die Welt angesehen. Das ärgerte Hitler. Er konnte niemanden neben sich leiden, der klüger war als er.«
»Pa war ein Verschwörer! Er hat gegen Hitler gekämpft!«, ruft Jonah. Pa zischt, er soll leise sein.
Ich kann noch nicht beurteilen – ich kann nicht mehr beurteilen –, ob Pa es ernst meint. Ich weiß ja nicht einmal, wovon er redet, außer der Sache mit Hitler. Hitler, das weiß ich, was das ist. An den schrecklichen Nachmittagen, an denen Jonah und ich aus dem Haus verbannt werden und mit den Jungs des Viertels spielen müssen, spielen wir immer nur Krieg – Normandie, Bastogne, der Übergang über den Rhein. In den Köpfen von kleinen Jungs geht der Weltkrieg weiter, sie spielen immer noch Sieger, vier Jahre nachdem die Erwachsenen es aufgegeben haben. Sie brauchen einen Hitler, und das sind immer die Strom-Jungen. Einer muss Onkel Adolf sein, der andere spielt seine schwachköpfigen Offiziere. Wir zwei können das am besten, weil wir den ulkigen Akzent haben, wir sterben gut und liegen so lange so still, dass die anderen schon Angst bekommen. Wir liegen still bis zu dem Tag, an dem unsere Spielgenossen sich den Fall von Berlin vornehmen und uns in Brand stecken. Danach dürfen wir eine ganze Weile zu Hause bleiben.
Wir spazieren wieder die Overlook Terrace entlang, und mein Vater nickt immer neuen Passanten zu. Zwanzig Häuserblocks und sechzehn Jahre fort – je nach Uhr – liegt
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