Der Klang der Zeit
der Zulassung in roter Tinte, folgte ich meinem Bruder nach Juilliard. War Boylston ein Vorposten in der Provinz gewesen, war Juilliard das Rom der Musik. Man musste nur einen Korridor hinuntergehen, und aus den Türen ertönten in phantastischer Kako-phonie drei Jahrhunderte westlicher Musikgeschichte. Jonah und ich waren wieder Kinder geworden, standen auf der untersten Sprosse einer Leiter der Erfahrung, die sich vor uns bis ins Unendliche erstreckte.
Zu dem Schulgebäude an der Claremont Avenue ließ es sich bequem zu Fuß gehen, wir konnten zu Hause wohnen bleiben, und das war eine ungeheure Erleichterung für mich. In der eigenen Welt der Musik waren wir niemandes »Frage«, niemandes Skandal, niemandes Wegbereiter. Eigentlich beachtete uns kaum jemand. Wie man aussah, spielte dort überhaupt keine Rolle. Was zählte, war, wie man klang.
Unsere Mitschüler brachten uns tüchtig ins Schwitzen. Es mochte schon stimmen, dass Jonah in sieben Monaten Schweigen mehr über das Singen gelernt hatte als bei jedem Lehrer nach unserer Mutter. Aber über die Welt der Profimusiker lernte er binnen zwei Wochen in deren nordamerikanischer Kapitale mehr, als er jemals wissen wollte. Die eigentliche Schulbildung wurde noch mehr vernachlässigt als in Boston. Das war uns nur recht. Wir waren schließlich wegen anderem dort. Dem Einzigen, wozu wir beide noch den Mut hatten.
Jonah blieb nicht lange im Vorkurs. Sobald es möglich war, schubsten seine Lehrer ihn die Leiter hinauf. Und er war bei weitem nicht der Jüngste, der das Studium aufnahm. In der Schule drängten sich die Wunderkinder, und manche hatten mit sechzehn – dem Alter, in dem Jonah hinzustieß – schon das gesamte Programm absolviert. Aber wohl keiner war schlechter auf einen frühen Eintritt ins Erwachsenenleben vorbereitet als er.
Er begann im Jahr von Little Rock, drei Jahre nach Brown vs. Topeka, dem Fall, der angeblich das Land revolutioniert hatte. Wieder studierten Jonah und ich gemeinsam Pressefotos – neun Jugendliche werden im Schutz der Fallschirmjäger des 101. Regiments zur Schule gebracht, damit auch sie etwas über Thomas Jefferson und Jefferson Davies lernen können –, und wir schlendern, als sei nichts dabei, durch die Portale unseres Konservatoriums und lernen Sonatensatz. Jeden Tag sah ich verstohlen in der Schulbibliothek die Zeitungen an. Jugendliche in unserem Alter auf ihrem Schulweg durch die wütenden Massen, immer nur einen Schritt vom Aufgeknüpftwerden entfernt, springen sie die von Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten gesäumte Treppe hinauf, Soldaten, die, allesamt weiß, ihre Befehle selbst nur erfüllen, weil sie mit vorgehaltener Pistole gegeben werden. Armeehubschrauber landen auf dem Fußballfeld, bauen eine Vorpostenlinie auf. Gouverneur Faubus ruft die Nationalgarde, widersetzt sich gerichtlichen Anweisungen, marschiert gegen die Bundestruppen und spricht im Fernsehen von einem Aufstand: »Wir sind ein besetztes Land.« Und General Walker antwortet: »Je schneller der Widerstand gebrochen ist, desto schneller wird an den Schulen Normalität einkehren.« Das ganze Land stand bereit, nach hundertjähriger Pause den Bürgerkrieg wieder aufzuneh-men, ein Krieg um neun Schüler meines Alters, und ich mühte mich derweil mit Chopin-Etüden und Jonah eroberte Britten im Sturm.
Mein Land war das Konservatorium, Arkansas nicht mehr als ein ferner Albtraum. Ich weiß nicht, wie Jonah über Little Rock dachte. Wir sprachen nur einmal darüber, als wir zusammen vor Pas erstem Schwarzweißfernseher saßen, die Nachrichten sahen und auf eine Kriminalserie warteten, die den nächsten Sommer nicht überdauern sollte. Auf dem Bildschirm drängte sich ein magerer weißer Teenager mit Bürstenhaarschnitt an ein schönes Mädchen mit Sonnenbrille und flüsterte eine unhörbare Drohung. Jonah saß neben mir im Dunkeln und sagte: »Wenn er sie anfasst, wird er es büßen.«
Wir lebten wie die Fürsten in unserer schönen neuen Welt. Jeden Nachmittag ein kostenloses Konzert, höchster Kunstgenuss vor meist leeren Häusern. Alle paar Wochen – so oft wir Pa die Erlaubnis zum Ausgehen abringen konnten – nutzten wir die Gelegenheit und hörten zum Schülerpreis eine Symphonie, wenn nicht gar eine Oper.
Ich studierte und übte, jeder Tag war für mich acht Stunden zu kurz. Zum ersten Mal machte ich Bekanntschaft mit einem Repertoire, das so sagenumwittert war, dass ich kaum wagte, die Noten zu spielen. Unter Anleitung meines Lehrers
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