Der Klang der Zeit
Baseballreportagen an, Krimiserien, Hörspiele, all die Sendungen, die er in seiner Kindheit nicht gehört hatte. Er hatte sogar einen Lieblingssender, auf dem er Bigbandmusik hörte, wenn er sich anders nicht vom Nachdenken abhalten konnte. Mir gestattete er immerhin, dass ich mir samstags die Übertragungen aus der Met anhörte, und war selbst dabei, auch wenn er tat, als höre er nicht zu.
Wenn Ruthie am Nachmittag aus der Schule kam, las ich ihr etwas vor oder ging mit ihr in einer ungefährlichen Ecke des Parks spazieren. Ich war ja in den letzten beiden Jahren nur ein paar wenige Wochen mit meiner Schwester zusammen gewesen. Sie war eine Fremde, ein überdrehtes kleines Mädchen, das mit sich selber redete und sich in den Schlaf weinte, weil wir ihr das Haar nicht so bürsten konnten wie Mama. Wir haben es versucht. Wir waren alle überzeugt, dass es genauso war wie früher, alle außer Ruth.
Manchmal setzte ich mich mit ihr ans Klavier, so wie Mama einst mit mir. Ruth lernte alles, was ich ihr gab, schneller als ich es seinerzeit gelernt hatte. Aber ihr Fingersatz war nie zweimal der gleiche. »Bleib doch mal an einer Stelle«, sagte ich.
»Warum?« Sie verlor schnell die Geduld mit dem Instrument, und die meisten Unterrichtsstunden endeten im Streit. »Das ist doch blöd, Joey.«
»Was ist blöd?«
»Die Musik hier.« Und dann legte sie mit der Parodie einer Mozart-Sonatine los, eine brillant improvisierte Burleske. Sie verachtete sie, ver-spottete sie mit ihren Noten, die Musik, mit der wir groß geworden waren. Die Musik, die ihre Mutter getötet hatte.
»Und was ist blöd daran?«
»Das ist so ofay.«
»Was heißt ofay'?«, fragte ich Jonah am Abend, als Ruth außer Hörweite war.
Mein Bruder zögerte nie länger als eine Achtelnote. »Das ist Französisch. Heißt soviel wie up to date. Dass jemand weiß, wie was gemacht wird.«
Ich fragte Pa. Er machte eine strenge Miene. »Wo hast du das gehört?«
»Aufgeschnappt.« Belog meinen eigenen Vater. Alle Offenheit in unserem Leben war mit unserer Mutter gestorben.
Mein Vater nahm die Brille ab. Ohne sie war er so gut wie blind. Eine blinzelnde, hilflose Flunder auf dem Eis. »Hört man das immer noch?«
»Manchmal«, bluffte ich weiter.
»Das soll man nicht sagen. Das ist Kellerlatein.«
Ich prustete laut los. Dafür hätte ich eine Ohrfeige verdient. »Küchenlatein.«
»Dann eben Küchenlatein. Es ist schwarzer Slang. Ein abfälliger Ausdruck für einen Weißen.«
Ich stellte Ruth nicht zur Rede. Aber wir spielten auch keinen Mozart mehr. Meine Schwester war noch nicht einmal elf, noch mindestens ein Jahr bis zum Ende der Kindheit. Aber schon jetzt hatte sie sich verändert. So viele gemeinsame Wochen hatte ich gebraucht, bis ich begriff, dass die kleine Ruthie zusammen mit Mama untergegangen war.
»Was möchtest du lernen?«, fragte ich. »Wir können alles üben, was du willst.« Es war ein Angebot aus grenzenloser Unwissenheit. Hätte ich auch nur die leiseste Ahnung gehabt, was alles an Musik gespielt wurde – wie das swingte, stampfte, sich bog und hüpfte, wie es schmeichelte, kitzelte, wie die Töne gereizt wurden bis über das Tonale hinaus, wie zitiert, gestohlen, beschlagnahmt und rückerstattet wurde, all die Tonleitern und Töne, die sich aus den gerade einmal zwei Tongeschlechtern, die meine Musik kannte, machen ließen –, hätte ich auch
nur ein einziges Mal die Grenzenlosigkeit der Phantasie ermessen, die mich umgab, dann hätte ich meiner kleinen Schwester nicht einmal mehr einen C-Dur-Akkord beibringen können.
»Keine Ahnung, Joey.« Ruths linke Hand spazierte über die Tasten, spielte einen Bass im Trabertempo. »Was hat denn Mama gern gespielt?«
Es war erst ein paar Monate her. Sie konnte es nicht vergessen haben. Und sie konnte auch nicht glauben, die Erinnerung spiele ihr einen Streich.
»Sie hat alle Musik gemocht, Ruth. Das weißt du doch.«
»Ich meine, was außer ... weißt du, bevor ihr dieses ...«
Ich selbst übte mindestens vier Stunden am Tag und nahm auch bald wieder Unterricht. Musik war jetzt kein Spiel mehr und würde auch nie wieder pures Vergnügen sein. Aber ich hatte ja nichts anderes. Ein Schüler meiner Mutter, Mr. Green, unterrichtete mich. Alle vierzehn Tage gab er mir einen neuen Satz einer Beethovensonate zu üben und überließ mich dann mir selbst. Bei den wöchentlichen Sitzungen mühte ich mich, ihn nicht zu rasch zu überflügeln.
Ich lernte kochen. Andernfalls hätten wir wohl
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