Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
als der, der es dorthin gesetzt hat.
    Mein Körper weiß genau, welche Noten als Nächstes kommen, auch wenn mir noch die Worte fehlen, sie zu beschreiben. Die Oberstimme steigt eine reine Quinte, schwingt sich auf von dem Lager der tieferen Note. Die beiden Stimmen bewegen sich wie die weichen Knorpel in meiner Brust; bei dem strahlend hellen eee dehnen sich meine Rippen und entfernen sich voneinander, um dann in einem Unisono wieder zu verschmelzen.
    Ich höre die Krümmung des Raums in diesen beiden Stimmen, wie sie voneinander wegstreben, wie jede still steht, während die andere sich bewegt. Lang, kurz-kurz, lang, lang: Sie umkreisen einander und kehren zurück, wie ein windgebeutelter Ast, der sich wieder mit seinem Schatten vereint. Sie nähern sich dem Ausgangston von verschiedenen Seiten, dem gemeinsamen Punkt, wo sie sich wider alle Wahrscheinlichkeit erneut vereinen müssen. Doch unmittelbar bevor sie am Ende ihrer Reise wieder zusammentreffen, gerade als sie mit den Lippen das wieder gefundene Zuhause berühren, tauchen die Stimmen der Männer aus dem Nichts, bilden Zweiergruppen und wiederholen das Spiel von Trennung und Wiedervereinigung, nur eine reine Quarte tiefer.
    Weitere Stimmen lösen sich, bilden ein Echo und machen sich allein auf die Reise. Eee-leee. Ee-leee-iii! Jetzt sind es sechs Stimmen, die die Melodie aufgreifen und variieren, jede nach ihrem eigenen Plan, synkopiert und versetzt, und doch immer mit einem Auge auf die anderen Artisten in der Luft; nicht die kleinste Unsicherheit, kein Zusammenstoß mit einem der vielen beweglichen Ziele. Ein auf das Wesentliche reduzierter, einfacher Gesang und doch ein wahres Klangfeuerwerk. Die zum Leben erwachte Luft ist erfüllt von einem Sternschnuppenschauer aus gestaffelten Einsätzen; überall höre ich die erste Phrase in all ihren Variationen. Komplexe Harmonien bauen sich auf, vergehen und entstehen anderswo neu, jede Melodie preist Gott auf ihre eigene Weise, und alles verbindet sich zu etwas, das für mich wie Freiheit klingt.
    Die Zuhörer rings um mich her fühlen sich zurückversetzt in ihre Vergangenheit. Erst wenn ich viel älter bin, werde ich verstehen, wie diese Luftbrücke sie an die Zeit vor der Berliner Blockade denken lässt, als sie in ihren Betten lagen und nichts von der Atombombe ahnten, als sie sich versteckt hielten vor den Behörden, die alles nummerierten, damals, als noch nicht alle tot waren, als das Einhorn noch nicht in seinem Blumenbeet angekettet war, eine Zeit vor diesem Jetzt, das es nie gegeben hat, auch wenn noch so viele Zuhörer ihm am liebsten entfliehen möchten. Ich selbst werde nicht zurückversetzt. Im Gegenteil. Diese Musik schleudert mich vorwärts, beinahe mit Lichtgeschwindigkeit, und ich schrumpfe und werde langsamer, bis ich an genau dem Punkt zum Stillstand komme, wo all meine zukünftigen Ichs landen.
    Jahre sind vergangen, seit ich zuletzt im Norden von Manhattan war. Ich sage vergangen, obwohl mein Vater mir schon vor so langer Zeit, als mein Verstand noch formbar war, eingeschärft hatte, auf solche Worte nicht hereinzufallen. Frischs Bäckerei ist fort, in ihr eigenes KZ verschleppt; ersetzt durch eine Videothek oder einfach nur einen Laden, dessen Rollläden schon so lange heruntergelassen sind, dass ihn gar keiner mehr anders kennt. Als ich das letzte Mal dort war, vor fünf oder sechs Jahren, war das Viertel wieder im Umbruch, diesmal von jüdisch zu dominikanisch – die nächste Flutwelle von Immigranten, die sich an das unerreichbare Ufer spülen ließ. Vierzigtausend Einwanderer von der Insel richteten sich in ihrer neuen, hoffnungslosen Nation ein, zu Füßen von Fort Tryon, von dem sie hofften, dass es die Kolonie vor dem wohlhabenden Jersey beschützen könne wie vor dem Elend der Bronx.
    Und unterhalb der Festung, ganz an der Spitze der Insel: der zeitlose falsche Garten. Nur ein einziges Mal bin ich noch in den Cloisters gewesen, seit Jonah Ende der sechziger Jahre dort sang. Der Anblick be-trübt mich: Das Sammelsurium von billig gekauften romanischen und gotischen Bruchstücken, das künstliche Paradies einen Steinwurf weit von dem Viertel, wo vierzigtausend Dominikaner verzweifelt versuchen, im Inferno New York am Leben zu bleiben. Jetzt, da die Welt zu ewiger Jugend verdammt ist, muss die Mittelaltercollage den Leuten älter denn je vorkommen. Es kommen noch immer Besucher, die Verstörten, die Todkranken, diejenigen, die aus den Trümmern ihres städtischen Alb-traums

Weitere Kostenlose Bücher