Der Klang der Zeit
alle Skorbut oder Rachitis bekommen – Krankheiten des neunzehnten Jahrhunderts, die ein paar Häuserblocks nördlich und östlich von uns nach wie vor wüteten. Ich hatte irgendwo gelesen, dass Spinat und Kartoffeln mit ein wenig Hackfleisch alles an Nährstoffen boten, was der Körper brauchte. Mamas sämtliche Rezepte, mit Füllfederhalter auf Karteikarten geschrieben und in einer grünen Blechschachtel auf der Küchenfensterbank aufbewahrt, waren verbrannt. Alles, was ich zustande brachte, war nur ein schwacher Abglanz all der Festmahle von ihrem Herd. Aber meine Gäste wussten, dass sie nur die Wahl zwischen dem und Haferflocken hatten.
Der Monat, in dem unsere Mutter starb, war auch der Monat, in dem Rosa Parks sich weigerte, ihren Sitzplatz aufzugeben. Während ich unsere Mahlzeiten kochte und meine kleine Schwester in ihre gemischtrassige Schule ging, beendeten fünfzigtausend Menschen in Montgomery ihren einjährigen Busstreik. Die Bürgerrechtsbewegung hatte sich formiert. Das Land, in dem ich geboren war, steuerte auf eine Krise zu. Aber ich hörte kein Wort davon. Pa muss die Entwicklungen aufmerksam verfolgt haben. Aber auch wenn er uns noch so viel beim Abendessen erzählte: Dieses Thema kam niemals auf.
Jonah verbrachte seine Tage in fiebernder Passivität. Er hörte Radio. Er ging spazieren oder er saß, an den Tagen, an denen er unseren Vater auf den Campus begleitete, reglos in der Musikbibliothek von Columbia. Er versuchte durch bloßen Stillstand in die Vergangenheit zurückzukom-men. Jahre später sagte er in einem Interview, das seien die Monate gewesen, die ihn zum erwachsenen Sänger gemacht hätten. »In diesem halben Jahr Schweigen habe ich mehr über das Singen, erfahren als ich je von einem Lehrer gelernt habe, weder vorher noch nachher.« Außer von der Lehrerin, von der er sogar das Schweigen gelernt hatte.
Pa konnte uns nicht ewig zu Hause lassen. »Kommt, Jungs. Die Welt ist nicht untergegangen, noch nicht jedenfalls. Wenn ihr nicht bei mir Physik lernen wollt, müsst ihr euch eine andere Schule suchen.«
Das war das letzte Mal, dass Jonah sich ein du musst gefallen ließ. »Ja zum Teufel, Muli. Jack Robinson spielt nicht mehr. Sie haben den ›Sha-dow‹ eingestellt. Da können wir auch genauso gut zurück in den Knast gehen.«
Er entschied sich für Juilliard – die Schule, die näher am Zuhausebleiben war als jede andere. In Juilliard würde er beinahe wieder ganz eintauchen, in das Einzige, was wir beide konnten. Pa vermittelte Jonah Gesangstunden bei einem Lehrer an der Musikalischen Fakultät von Columbia, und einen Monat vor den Aufnahmeprüfungen stürzte er sich wieder in die Arbeit. Vielleicht stimmte es ja wirklich, dass er vieles durch Schweigen gelernt hatte. Juilliard nahm ihn auf Anhieb in den Vorkurs auf.
An dieser landesweit führenden Schule für Berufsmusiker gab es nicht einmal für einen so herausragenden Sänger wie Jonah Privilegien. Er konnte nicht seine Zusage davon abhängig machen, dass ich ebenfalls genommen wurde. Der Druck lastete also ganz und gar auf mir. »Wenn sie dich nicht nehmen, gehe ich auch nicht«, sagte Jonah unmittelbar vor meiner Prüfung. Ich bin sicher, es war als Aufmunterung gemeint.
Ich ging hinaus zum Vorspielen, und die Zukunft meines Bruders lastete auf meinen Schultern, so schwer, dass ich mich bis fast auf die Tasten hinunterbeugte. Ich stolperte durch den ersten Satz von Opus 27, Nr. 1, Läufe wie aus ranziger Butter. Ich konnte es hören, wie ich meinen Bruder und mich zu lebenslanger Untätigkeit in der muffigen Wohnung unseres Vaters verdammte. Nach dem Vorspielen ging ich zur Toilette nebenan und übergab mich, wie Jahre zuvor die Jungs, über die Jonah sich gewundert hatte. Unsere musikalische Erziehung war schneller und umfassender gewesen, als unsere Eltern sich je vorgestellt hätten. Ich war froh, dass Mama nicht mehr mit ansehen musste, wo ich gelandet war.
Meine Zulassung kam zusammen mit einer zweiseitigen Mängelliste in roter Tinte. Als Letztes stand, doppelt unterstrichen, ein einziges Wort: »Haltung!« Jonah ließ mich das nie wieder vergessen. Jedes Mal, wenn wir uns zu Tisch setzten, schnauzte er mich mit diesem Wort an, mit deutschem Akzent gesprochen. Wir gingen den Bürgersteig entlang, und er packte plötzlich meine Schultern und zog sie zurück. »Haltung, Herr Strom! Nicht! So! Krumm!« Er hat nie begriffen, dass es sein eigenes Gewicht war, das mir die Schultern niederdrückte.
Gebrandmarkt mit
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