Der Klang der Zeit
Studenten gab es sogar ein paar Neger. Richtige Neger. An dem Tag, als ich meinen ersten sah – einen breitschultrigen, emsig wirkenden Studenten aus den höheren Semestern mit Sonnenbrille und einem Packen Noten unter dem Arm –, hätte ich ihn beinahe begrüßt wie einen lange verloren geglaubten Vetter. Er warf mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu und rief: »He, Soldat.« Dazu salutierte er locker mit zwei Fingern, als gehörten wir, allem Anschein zum Trotz, derselben Einheit an. Die Weißen waren sich nie sicher. Sie hielten uns für Inder oder Puertoricaner. Sie sahen nie genau hin. Die Schwarzen wussten immer Bescheid, aus einem ganz einfachen Grunde: Weil ich ihren Blick erwiderte.
Bei unserer zweiten Begegnung blieb der Mann stehen. »Du musst Jonah Strom sein.« Ich korrigierte ihn. »Heiliger Himmel. Dann gibt es also zwei von eurer Sorte?« Er kam unüberhörbar aus dem Süden und war noch schwerer zu verstehen als János Reményi. Er sang Bass, hieß Wilson Hart und hatte an einem schwarzen College in Georgia, einem Staat, auf den ich bislang noch nie einen Gedanken verwendet hatte, eine Ausbildung als Lehrer gemacht. »Der einzig mögliche Job für einen schwarzen Bass, dachte ich.« Ein Professor hatte ihn bei einem Besuch singen gehört und hatte ihn überredet, es sich anders zu überlegen. Wilson Hart war noch immer nicht überzeugt.
Selbst wenn er sprach, hörte ich die ungeheure Resonanz seiner Stimme. Aber Wilson Hart hatte einen Traum: Er wollte mehr als nur singen. »Soll ich dir sagen, was ich tun würde, wenn wir in einer besseren Welt lebten?« Er öffnete die Mappe, die er immer unter dem Arm trug, und breitete die cremefarbenen, mit Bleistift beschriebenen Notenblätter vor mir aus, einfach so auf dem Flur. Ich studierte die Noten, Noten, die dieser Mann geschrieben hatte. Auch wenn sie irgendwie unfertig waren und sich an Bekanntes anlehnten, sah man doch das Talent.
Er wollte komponieren. Ich konnte es kaum fassen, wie ich zu meiner Schande gestehen muss. Ja, weil er zu der gleichen Rasse gehörte wie meine Mutter. Aber vor allem, weil er lebte und hier mit mir redete. Ich betrachtete mein eigenes Leben. Komponieren war mir nie in den Sinn gekommen. In jeder Minute strömte neue Musik in diese Welt, an allen Ecken. Wir konnten mehr tun, als sie nur wiederzugeben. Wir konnten unsere eigene Musik schreiben.
Wilson Hart musterte mich wie ein Spion Gottes. »Sie fragen dich dauernd, wieso ein Schwarzer sich für so was interessiert?«
»Wir sind Mischlinge«, antwortete ich.
Kaum hatte ich das Wort ausgesprochen, schleuderte er es mir zurück. »Mischlinge? So wie in Mischmasch?« Er sah mich im Boden versinken. »Ist schon gut, Bruder. Kein Gaul auf der Welt, der ein Vollblut ist.«
Wilson Hart war der erste Mensch, mit dem ich aus eigener Kraft Freundschaft geschlossen hatte. Er lächelte mir vom anderen Ende eines langen Flurs zu und saß neben mir in vollen Konzertsälen. »Jetzt hör schon endlich auf mit deinem Mr. Hart. Der einzige Mensch, dem ich je gestatten werde, mich Mr. Hart zu nennen, ist Mrs. Hart, wenn ich sie irgendwann finde. Für dich, Mr. Mixed, bin ich Will.« Wenn er mir auf dem Flur begegnete, klopfte er auf seine Mappe mit frisch geschriebenen Noten. Es war unsere private Verschwörung, diese Kaskade neuer Noten. Du und ich, Mix. Sie werden unsere Musik hören, bevor wir aus diesem Laden hier raus sind. Die Freude darüber, dass er mich als seinen Wegge-fährten auserwählt hatte, quälte mich mehr als jeder Gedanke an unsere Rasse.
Schließlich lernten Will und Jonah sich kennen – auch wenn ich gar nicht so erpicht darauf war, sie einander vorzustellen. Sie waren wie Feuer und Wasser. Jonah war mit der Avantgarde aufgeblüht, der Explosion und der Eindämmung der neuen Freiheit. Als Jonah zum ersten Mal die Wiener Schule hörte, hätte er die Aufrührer am liebsten zusammengetrieben und exekutiert. Beim zweiten Mal rümpfte er nur die Nase. Als er zum dritten Mal zuhörte, schlug aus der schwelenden Bedrohung der westlichen Kultur eine Flamme so hell wie der Morgenstern. Der Zeitpfeil wies für Jonah nun unerbittlich in die Zukunft, zur seriellen Musik oder deren paradoxem Zwilling, der Aleatorik.
Jonah sah sich Wilson Harts Kompositionen an, sang einige Melodien vom Blatt mit einer Stimme so mächtig wie die Instrumente, für die sie geschrieben waren. Allein dafür hätte Will ihm alles gezeigt, was er je komponiert hatte. Aber am Ende seiner
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