Der Klang der Zeit
bravourösen Darbietung warf Jonah die Hände in die Luft. »Will, Will! Was soll nur all diese Schönheit! Du bringst uns ja um mit so viel Harmonie, Mann. Schleppst uns im Alleingang zurück ins neunzehnte Jahrhundert. Was hat denn das neunzehnte Jahrhundert je für dich getan, außer dich in Ketten gelegt?«
Ich saß dazwischen, wartete auf den Weltuntergang. Aber der Streit machte den beiden Spaß.
»Das hier hat nichts mit dem neunzehnten Jahrhundert zu tun«, sagte Will und sammelte seine zerstreuten Truppen. »Das ist euer erster Blick auf das Einundzwanzigste. Ihr habt nur noch nicht gelernt, es zu hören.«
»Aber ich habe das schon gehört. Ich kenne die Melodien auswendig. Es klingt wie ein Copland-Balett.«
»Ich würde meinen kleinen Finger dafür geben, wenn ich ein Copland-Balett schreiben könnte. Der Mann ist ein Meister. Hat ja auch mit eurer Katzenjammermusik angefangen. Aber die war ihm schnell langweilig.«
»Copland ist schon in Ordnung, wenn man Schnulzen mag.«
Ich betete zu Mamas Geist, dass er kommen und ihm den Hintern versohlen möge; besser wäre es gewesen, sie hätte es zu Lebzeiten getan.
»Und ich Dummkopf denke, Musik ist zum Vergnügen da.«
»Sieh dich doch um, Mann. Die Welt steht in Flammen.«
»Das ist wahr. Und wir brauchten einen schönen großen Ozean, um die Flammen zu löschen.«
»Du studierst bei Persichetti?«
»Mr. Persichetti ist ein Schüler von Roy Harris, genau wie unser Rektor Mr. Schuman.«
»Aber Persichetti hat das alles weit hinter sich gelassen. Die Zeit der Folk- und Jazzsammler ist vorbei. Er hat mehr zu sagen als das. Da kannst du doch nicht stehen bleiben. An die Arbeit, Wilson! Du sollst Boulez hören. Babbitt. Dallapiccola.«
»Meinst du, ich hätte nicht schon Stunden damit vergeudet? Wenn ich Krach hören will, kann ich mich an den Times Square stellen, da gibt's genug davon. Wenn ich Zufall will, kann ich auf Pferde wetten. Gott hat uns gesagt, wir sollen etwas machen aus dieser Erde. Wir sollen aufbauen, nicht alles niederreißen und vor die Hunde gehen lassen.«
»Aber diese Musik bautzui. Hör dir doch Stockhausen an. Varese.«
»Polizeisirenen kann ich jeden Abend vor meinem Zimmerfenster hören.«
»Mach dich doch nicht zum Sklaven der Melodie, Mann.« Jonah hörte das Wort, das er da sagte, gar nicht.
»Wir haben die Melodie nicht ohne Grund erfunden, Bruder Jon. Weißt du, was das Beste war, was Varese jemals getan hat? Er hat William Grant Still auf den richtigen Weg gebracht. Und das ist ein Komponist, der weiß, was Klang heißt. Habt ihr euch mal gefragt, warum kein Mensch die Musik dieses Mannes spielt? Warum ihr nicht mal gewusst habt, dass es einen schwarzen Komponisten gibt, bevor ihr euch mit mir eingelassen habt?«
Jonah grinste mich verschwörerisch an. Beide zerrten sie an mir, spannten mich straff wie das Seil beim Tauziehen.
Wenn Jonah nicht da war, missionierte Will bei mir. »Ich habe mir jahrelang die stocktauben Herren angehört, die dein Bruder so mag. Da gibt's nichts Neues zu hören, Mix. Und mit Sicherheit nicht die Freiheit, die Bruder Jon sich von da erhofft. Glaub mir. Mit fliegenden Fahnen wird unser Bruder zu uns zurückkommen, mit zugehaltenen Ohren, wenn er erst mal das Gequietsche und Geschepper leid ist.«
Will zeigte mir jede neue Komposition – aufgedonnerte klassische Kadenzen, die mit Swing und Cool flirteten, andächtige Gospelzitate begraben unter dem Ansturm dvořákscher Blechbläser. Er ließ mich schwören, dass ich niemals die Melodie aufgeben würde nur um eines falschen Begriffs von Fortschritt willen. »Versprich mir etwas, Mix. Versprich mir, dass du eines Tages die Noten aufschreibst, die du in dir hast.« Es schien mir ein unverfängliches Versprechen. Ich war mir sicher, dass bestenfalls ein halbes Dutzend Takte hervorkommen würde.
Er schwärmte für alles Spanische. Ich weiß nicht, woher diese Vorliebe kam. Sancho und der Don auf seinem Klepper. Trockene Hügelland-schaft. Will würde hinfahren, sobald er das Geld für die Reise beisammen hatte. Und wenn es für Spanien nicht reichte, dann wenigstens Mexiko oder Guatemala – jeder Ort, der nach Mitternacht zum Leben erwachte und in der Mittagssonne schlief.
»Ich muss da mal zu Hause gewesen sein, Bruder Joe. In einem früheren Leben.« Nicht dass er das Geringste über das Land gewusst hätte oder auch nur ein einziges Wort Spanisch sprach. »Meine Leute waren ein
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