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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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George Bateman lernte ich Opus 27, Nr. 1, noch einmal neu, diesmal richtig. Das Wohltemperierte Klavier war mein täglich Brot. Ich arbeitete mich durch einen großen Teil des ersten Bu-ches, hielt mich bei den schwierigen Fugen aber an die sicheren Tempi.
    Mr. Bateman war ein gefragter Begleiter. Wegen seiner zahlreichen Auftritte ließ er die Hälfte der Stunden ausfallen. Im Unterricht wirkte er zerstreut und unaufmerksam. Aber er hatte ein höllisch scharfes Gehör und konnte mit zwei Fingern seiner linken Hand Dinge tun, zu denen ich mit meiner gesamten Rechten nicht fähig war. Wenn er eine lobende Bemerkung fallen ließ, zehrte ich wochenlang davon.
    Er verstand es, seine Kritik so geschickt in einem solchen Lob zu verstecken, dass ich oft gar nicht merkte, wie schneidend sie war. Ich spielte ihm Chopins Mazurka in a-Moll vor. Das Wichtige daran ist der feine, punktierte Rhythmus – eine Beschwingtheit, die tanzen muss, ohne zu hüpfen. Ich schaffte die erste Wiederholung ohne Zwischenfall. Dann kam der triumphierende Übergang nach C-Dur – die vorhersehbarste plötzliche Aufheiterung der Welt. Mr. Bateman, der mit geschlossenen Augen dasaß, vielleicht sogar eingedöst war, sprang auf. »Halt!«
    Ich riss die Hände von den Tasten, erschrocken wie ein Hund, wenn er einen Klaps mit der Zeitung bekommt, die er brav für sein Herrchen geholt hat.
    »Was war das gerade?« Ich wagte nicht den Blick zu heben. Als ich es tat, fuchtelte Mr. Bateman mit den Armen. »Mach das nochmal!« Ich tat wie geheißen, halb gelähmt vor Unsicherheit. »Nein, Nein«, sagte er, und es klang merkwürdig aufmunternd. »Spiel so wie beim ersten Mal.«
    Ich spielte das Stück genau so, wie ich es immer spielte. Jedes Mal ver-düsterte eine Gewitterfront Mr. Batemans Miene. Doch schließlich ver-zogen sich die Wolken. »Das ist es! So ist es schön! Wer hat dir das beige-bracht?« Er fuchtelte wild mit den Armen, vertrieb frohgemut einen Schwarm lästiger Fakten. »Sag es mir nicht. Ich will's gar nicht wissen. Mach nur einfach weiter so und vergiss, was ich dir sonst noch sage.«
    Noch Tage später fragte ich mich, ob ich nicht doch vielleicht eine Begabung hatte, von der ich nichts ahnte. Ich wusste, worum es Mr. Bateman ging: Er wollte, dass ich nicht mit den Fingern spielte, sondern mit dem Gefühl, nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen. Als er meine Interpretation einer kleinen Schumann-Fantasie als »brillant« bezeichnete, glaubte ich einen ganzen Nachmittag lang, ich könne Berge versetzen. Sobald ich nach Hause kam, würde ich Mama erzählen, was Mr. Bateman gesagt hatte. Doch dann fiel es mir wieder ein, und die Freude über meinen Erfolg verwandelte sich in eine tiefere Verbitterung als die, die ich bei ihrem Tod empfunden hatte. Alles war sinnlos. Meine verkrüppelte Melodie schleppte sich durch so viele unvorbereitete Akkorde, dass ich dachte, ich müsse vor Scham versinken. Ich war der erbärmlichste Junge auf der ganzen Welt. Wie konnte ich jubeln, so rasch, nachdem mir jeder Grund zum Jubeln hätte vergehen sollen? Wie konnte ich so schamlos weiterwachsen, wo doch Mama nun auf immer zum Stillstand verurteilt blieb?
    Dies bleischwere Gefühl der Sinnlosigkeit fiel von mir ab, wenn ich übte. Ich hasste mich nach wie vor, wenn ich vergaß, was geschehen war, selbst wenn es nur für eine Minute war. Ich weiß nicht, wie Jonah überlebte. Wir sahen uns nicht oft, seitdem er ins College übergewechselt war. Er brauchte mich weniger. Doch wenn wir abends zusammen durch Morningside Heights nach Hause schlenderten, ließ er seine Unterrichtsstunden Revue passieren und war ärgerlich, dass ich nicht dabei gewesen war und alles selbst miterlebt hatte. Am Wochenende, wenn wir uns in dem Musikladen an der 110. Straße herumtrieben, konnte er immer noch wegen nichts und wieder nichts aus dem Häuschen geraten; dann schmetterte er plötzlich das Hornmotiv aus dem dritten Satz von Beethovens Fünfter und erwartete, dass ich mit der zweiten Hornstimme genau zum richtigen Zeitpunkt einsetzte, im Takt, eine Terz tiefer als er, gerade so als sei nie jemand gestorben.
    Juilliard war so groß, dass selbst Jonah unbedeutender wirkte. In den Cafes rund um die Schule herrschte ein einziges Stimmengewirr, die Vereinten Nationen der Musik. Vor unserem Eintritt in Juilliard hatten wir uns mit neckischen Dittersdorf-Duetten begnügt, jetzt spielten wir in den mittleren Rängen einer internationalen Symphonie der Tausend.
    Unter den

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