Der Klang der Zeit
Weilchen zu Besuch da unten. Ein paar Jahrhunderte vielleicht. Die Spanier sind die besten Neger nördlich von Afrika. Die Deutschen wüssten überhaupt nicht, was sie mit so viel Seele anfangen sollten; sie könnten sie nur einsperren.« Seine Hand flog an die sündigen Lippen. »Hör nicht auf mich, Mix! Jedes Volk hat seine Vorstellungen davon, was diese Welt wirklich will.«
Wilson Hart wollte die Meerenge von Gibraltar überspannen, wollte Afrika und die iberische Halbinsel wieder vereinen. Er hörte das eine im anderen, wo ich überhaupt keine Verbindung erkannte. Das Wenige, was ich auf Juilliard über afrikanische Musik lernte, bestätigte nur, dass sie vollkommen anders als die unsere war. Aber Wilson Hart gab nie auf, immer wieder sollte ich die Verwandtschaft hören, den Rhythmus, der so verschiedenartige Rhythmen verband.
Oft fand ich Will in einer der Kabinen neben der Bibliothek, über einen Plattenspieler aus den Fünfzigern mit einem Tonarm so groß wie eine Affenpfote gebeugt, wo er sich Albeniz oder de Falla anhörte. Einmal packte er mich bei einem solchen Besuch und wollte mich nicht wieder loslassen. »Genau das Paar Ohren, nach dem diese Musik verlangt.« Ich musste mich setzen und mir ein komplettes Gitarrenkonzert anhören, von einem Mann namens Rodrigo.
»Na?«, fragte er, als der dritte Satz triumphierend in den Hafen einlief. »Was hörst du, Bruder Joe?«
Ich hörte verstaubte, archaische Tonalität, die gern verborgen hätte, wie lächerlich jung sie noch war. Sie setzte sich hinweg über alle historischen Bemühungen zum Aufbrechen der Konsonanz. Die Sequenzen waren so traditionell, dass ich jede schon zu Ende gedacht hatte, bevor sie überhaupt begonnen hatte. »Mitreißend ist es.« Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
Er machte ein enttäuschtes Gesicht. Es war etwas Bestimmtes gewesen, das ich hören sollte. »Was hast du über den Mann erfahren, der es so mitreißend gemacht hat?«
»Außer dass er aus Nordafrika kommt?«
»Mach dich ruhig lustig über mich. Aber sag mir, was du über ihn weißt, jetzt da er dir alles verraten hat.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich geb's auf.« »Blind vom dritten Lebensjahr an. Hast du das nicht gehört?« Ich schüttelte den Kopf, konnte nichts gegen seine Enttäuschung tun. »Nur ein Blinder kann so etwas schreiben.« Will legte die rechte Hand auf seine eigene geschlos-sene Mappe. »Und ließe Gott mich etwas zustande bringen, was auch nur ein Zehntel so schön wäre, würde ich mit Freuden –«
»Will! Das darfst du nicht sagen! Nicht einmal im Scherz!« Ich glaube, ich habe ihm einen Schrecken eingejagt.
Ich fragte Jonah, ob er das Stück kannte. Concerto de Aranjuez. Er schnaubte schon abfällig, bevor ich den Titel zu Ende gesprochen hatte. »Durch und durch reaktionär. 1939 geschrieben! Da war Berg schon drei Jahre tot.« Als wären die echten Pioniere den anderen in allem voraus, sogar im Sterben. »Mann, was stellt dieser Will mit dir an? Wenn das so weitergeht, pfeifst du Schlager aus dem Radio, bevor wir aus diesem Kasten hier raus sind. Musik und Wein, Joseph. Je weniger Ahnung man davon hat, desto süßer mag man sie.« »Und wie viel Ahnung hast du von Wein?«
»Überhaupt keine. Aber ich weiß, was mir schmeckt und was nicht.« Jonah hatte Recht. Will Hart lebte in der suspekten Grauzone der Schule. Für Juilliard bestand die Welt nach wie vor aus der schmalen Raute zwischen London, Paris, Rom und Berlin. Musik, das waren die großen deutschen B's, die Namen, die in die Marmorsockel gemeißelt waren, der alte Traum vom Großreich, vor dem unser Vater geflohen war. Die ernste Musik Nordamerikas – auch Wills Lieblinge Copland und Still – galt hier bestenfalls als Ableger der europäischen Tradition. Dass dieses Land sehr wohl eine eigene Musik hatte – eine, die sich spektakulär alle drei Jahre neu erfand, ein Bastard der Kirchenlieder und Spirituals, der Sklavengesänge und Arbeitslieder, der verschlüsselten Fluchtpläne, des hemmungslos rhythmischen, trunkenen Grölens eines Leichenbegäng-nisses in New Orleans, in Baumwollballen flussaufwärts verschifft nach Memphis und St. Louis, verwandelt zu Bluesharmonien, vor denen auch die Mächtigen nicht die Ohren verschließen konnten, im Norden wieder aufgetaucht, wo er als mitreißender Ragtime die Bahntrassen Chicagos eroberte und dann über Nacht (die längste,
Weitere Kostenlose Bücher