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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Aber wenn mein Bruder unter seinen Freunden war, blieb ich lieber bei ihm, und wir beide schaukelten gemeinsam auf schwerer See. Jonah fand sich in ihrem Jargon zurecht, als spräche er ihn von Kindheit an. »Haynes' fünf Mittel-töne, die sind wirklich perfekt« oder »Thomas' Portamenti, eine Braut in jedem Hafen.« In den Ohren der anderen waren seine Kommentare immer nur ein unschuldiges Staunen. Niemals hörte es sich an, als urteile er verächtlich über jemanden.
    Was sein eigenes Ansehen anging, so wussten auch Jonahs Verächter, dass sie eine doppelläufige Flinte brauchten, wenn sie leichtsinnig genug waren, ihn aufs Korn zu nehmen. Es kam vor, dass ich Mitschüler in den hinteren Reihen des abgedunkelten Auditoriums sagen hörte, sein Ton sei zu rein, er singe zu mühelos, zu leicht, tue, als sei keine körperliche Anstrengung dabei, nichts von der Anspannung, der die besten Tenöre ihre Wirkung verdankten. Und ich zweifle nicht, dass die Leute bei Sammy's an Winterabenden, wenn wir nach Hause gegangen waren, Schlimmeres über ihn sagten. Aber solange wir mit den anderen über unseren Limonaden saßen, kommentierten sie ihn nur mit einem ungläubigen Kopfschütteln. Sie entschieden, wer der Beste, Klarste, Hellste des Nachmittags gewesen war. »Und dann ist da noch Strom«, pflegte O'Malley schließlich zu sagen. »Eine Klasse für sich.«
    Einmal, kurz bevor ich selbst ebenfalls zu den College-Kursen aufstieg, saßen wir bei Sammy beisammen. Das Gespräch kam auf Jonah, der sich damals gerade seinen ersten Schubert aneignete, die Schöne Müllerin, und die Vehemenz, mit der er diesen Angriff auf die weiße Weiblichkeit führte, erfüllte O'Malley mit ehrfürchtigem Staunen. »Wenn einer von uns berühmt wird, dann ist es Strom hier. Das steht fest. Der Junge schafft es bis ganz nach oben. Wir werden an seinen Rockschößen hängen, bis er uns abschüttelt. Und dann werden wir von da, wo wir liegen bleiben, seinen Aufstieg verfolgen. Er kommt, e-her ko-hommt, der sta-ha-ha-ha-harke Held!«
    Mein Bruder steckte die zusammengerollte Papierhülle seines Strohhalms in die Nase und blies sie dem Kritiker entgegen.
    »Du denkst, ich mache Witze, was?«, sagte O'Malley. »Wenn er nicht unter die Räder kommt, wird unser Junge hier das berühmteste Halbblut aller Zeiten. Die nächste Leontyne Price für unsere ehrwürdige Schule.«
    Der aufregendsten neuen Stimme des Landes hatte man eben nach einem halben Jahrzehnt ihr Operndebüt gestattet, in San Francisco. Die ganze Schule jubelte über die ehemalige Schülerin, die Schlagzeilen machte. Doch als O'Malley nun den Namen nannte, geriet der ganze Hintertisch bei Sammy's ins Wanken, und das Lachen wollte nicht recht zünden. Jonah hob die Augenbrauen. Er öffnete den Mund, und heraus kam ein absurdes Falsett. »O mein Sopran braucht Öl, mein Schatz, geölt werden muss mein Sopran.« Ein leichtes Aufatmen ging durch die Gruppe. Dann neue, forcierte Heiterkeit.
    Wir machten uns auf den Rückweg, und ich sagte kein Wort. Er spürte mein Schweigen und hielt ihm stand. Wir waren schon den halben Weg bis zur Kathedrale St. John's gegangen, bis ich den Bann brach.
    »Halbblut, Jonah?«
    Er zuckte nicht einmal mit den Schultern. »Sind wir doch, Muli. Ich jedenfalls. Du kannst natürlich sein, was du willst.«
    Die größten Talente in Juilliard verstanden sich als farbenblind – jener Kuhhandel, den die hohe Kultur veranstaltet, damit ihr keiner einen Vorwurf machen kann. Mit fünfzehn wusste ich noch nicht, was farbenblind alles bedeuten konnte. In Juilliard waren alle Rassenfragen viel zu gut unter Verschluss gehalten als dass ein Misston daraus werden konnte. Von ein paar kleinen Ausnahmen wie den netten Strom–Jungen abgesehen, war die Negerszene anderswo. Rassenkrawalle gab es nur im Süden. O'Malley präsentierte uns seinen perfekt getroffenen Gouverneur Fau–bus: »Was in Gottes Namen geschieht in diesen Vereinigten Staaten von Amerika?« Die Freunde meines Bruders zeigten rechtschaffene Empörung bei jedem Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit, und jedes davon geschah, wie es im Folksong hieß, fünfhundert Meilen von zuhaus.
    »O mein Volk«, legte O'Malley los. »Wer bin ich?« Er bedeckte ein Ohr mit der gekrümmten Hand, drückte das Kinn auf die Brust und sang in Pseudo-Russisch mit der tiefsten Stimme, die er zustande brachte. Wir brauchten ein paar Takte, bis wir »Ol' Man River« erkannten. Die Blicke, die O'Malley warf, um seine Wirkung zu prüfen,

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