Der Klang der Zeit
dauerten nie länger als eine Achtelnote. Einer der bedeutendsten Männer des Landes lebte in politischem Hausarrest, war gezwungen, zu seinen europäischen Zuhörern über das Telefon zu singen, und hier sitzt O'Malley und macht einen dummen Witz darüber. In seinem besten Phi Beta Kappa-Akzent spricht der Rutgers-Absolvent Robeson: »Mr. Hammerstein der Zweite, Sir. Nie käme es mir in den Sinn, Sie zu kritisieren, Sir, aber in Ihren Texten scheint mir doch an einigen Stellen die Syntax dubios.«
Die Ader an der Schläfe meines Bruders pochte; ich sah, wie er mit sich rang, wie er am liebsten den ganzen Tisch umgeworfen hätte und nie zurückgekehrt wäre. Nicht weil O'Malley einen Schwarzen verspottete, sondern weil er Robeson verspottete. Niemand durfte sich über einen solchen Mann lustig machen. Einen Moment lang dachte ich, er werde die ganze Bande zum Teufel schicken und sich wieder dem einsamen Studium echter Musik zuwenden. Aller Augen mühten sich, ihn nicht anzusehen. Jonah lachte. Hart, aber er war dabei. Mit jeder anderen Antwort hätte er nur verlieren können.
Im Grunde war die Rasse eine Nebensache. Die Hüter des guten Gesangs sparten sich ihre Munition für eine realere, allgegenwärtigere Gefahr: die Klasse. Ich brauchte Jahre, bis ich hinter das Geheimnis des Punktesystems im Sammy's kam, und wäre mir nicht sicher, ob Jonah es jemals durchschaut hat. Ich weiß noch, wie er einmal einem einstimmigen Urteil widersprach, das auch mich in Erstaunen versetzt hatte. »Moment. Ihr würdet Paula Squires als Melisande engagieren, aber nicht Ginger Kittle als Mimi?«
Die Kritiker waren gnadenlos. »Vielleicht wenn La Ginger sich zu einer winzig kleinen Namensänderung bereit fände ...« – »Ihre Diphthonge allerdings, unnachahmlich. Dieses Yeah. Damit könnte sie in Peoria singen.« – »Und die Synthetikstoffe, die sie immer anhat. Jedes Mal, wenn sie über das hohe B hinausgeht, warte ich, dass ihre Bluse in einer Stichflamme verpufft.« – »Miss Kittle ist ja in ihrer Generation die wahre Verkörperung der Mimi. Stets glücklich tot im vierten Akt.«
Jonah schüttelte den Kopf. »Seid ihr denn alle taub? Sicher, sie ist nicht vollkommen. Aber die Squires steckt sie doch allemal in die Tasche.«
»Wenn sie nicht gerade ihre Hände drin hat.«
»Aber Paula Squires?«
»Jonah, mein Junge, du wirst das schon noch verstehen. Wenn du reifer wirst.«
Wir wurden beide reifer. Ich verbrachte meine Tage in einem Zustand permanenter sexueller Erregung, den ich als freudige Erwartung missverstand. Alles Gerundete oder Geschwungene, jeder Hautton von Zitronengelb bis Schokoladenbraun machte mich verrückt. Die Vibrationen des Klaviers, die sich über meinen Fuß vom Pedal übertrugen, waren oft schon zu viel für mich. Die Funken begannen als unschuldiges Glimmen, ein einziges Wort von einem weiblichen Wesen konnte sich zu langen Phantasien davon entwickeln, wie ich sie aus Gefahren errettete, wie ich mich opferte und glücklich mein Leben für sie gab, der einzige Lohn, der für mich denkbar war. Eine Woche oder zwei konnte ich mich zurück-halten, konzentrierte mich auf alles Reine – den mittleren Satz von Beethovens fünftem Klavierkonzert, meine Mutter, die uns mitten im Sturm auf der Eighth Avenue umarmte, Malalai Gilani, unsere Gesangsabende zehn Jahre zuvor. Aber auch wenn ich der Versuchung Widerstand leistete, wusste ich, dass ich ihr schließlich erliegen würde. Geduldig, gespannt wartete ich, bis ich allein in der Wohnung war. Die Wut darüber, dass ich nachgab, machte die Lust nur noch stärker. Jedes Mal, wenn ich mich befriedigte, kam es mir vor, als hätte ich Mama ein weiteres Mal zum Tode verurteilt, hätte alles Gute, das sie an mir gepriesen hatte, jedes Lob und jede Prophezeiung verraten. Jedes Mal schwor ich mir, mich zu bessern.
Vielleicht kam Jonah besser mit seinen Begierden zurecht – nur ein weiteres Drängen, das ihn vorantrieb. Vielleicht fand er eine willige Nymphe, die ihn berührte, wann und wo er es brauchte. Ich wusste es nicht. Er erzählte mir nicht mehr von den Entwicklungen seines Körpers, auch wenn ich immer erfuhr, wer gerade sein neuester Schwarm war. »Muli, dieses Mädchen musst du sehen. Du wirst Augen machen. Marguerite! Carmen!« Aber jedes Mal erwies sich das Objekt seiner Begierde als die Unauffälligkeit in Person. Ich überlegte, ob er sich über mich lustig machte. Alles was er an Schönheit in ihnen sah, lag jenseits meines sichtbaren
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