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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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schwärzeste Nacht der Seele, die es in der improvisierten Geschichte aller Zeiten je gegeben hat) den Jazz hervorbrachte samt seiner
    unzähligen halbblütigen Nachfahren, einen ganzen glitzernden Savoy–Saal voller Kinder, die singend hinauszogen, bis jedes Stück Weiß unter ihren stampfenden Füßen zerstob, amerikanisch, amerikanisch, was immer das bedeuten mochte, eine Musik, die die ganze Welt erobert hatte, als die Akademiker gerade einmal nicht hinsahen –, das hatte sich in diesen europaseligen Hallen noch nicht herumgesprochen.
    Jonahs Freunde waren weiß, und meine Freunde waren, von Will abgesehen, seine Freunde. Nicht dass mein Bruder sich bewusst Weiße ausgesucht hätte. Das war nicht nötig. Die Suzuki-Methode war gerade einmal zehn Jahre alt, und es würde noch Jahre dauern, bis die Welle der asiatischen Einwanderer die Vereinigten Staaten traf. Die Hand voll nahöstlicher Schüler war auf dem Umweg über England und Frankreich gekommen. Noch war Juilliards kosmopolitische See kaum mehr als ein Planschbecken.
    Mein Bruder ging gern zu Sammy's, einem Cafe gleich nördlich der Schule. Jonah hatte dieses Lokal ausgesucht, weil er, anders als seine neuen Freunde, wusste, wo er sich hinsetzen und hoffen konnte, dass er bedient wurde. Zur Kneipe gehörte eine Seeburg–Jukebox mit allen Finessen, bei der man für fünf Cent zusehen konnte, wie der kleine Greifer die Platten aus dem Ständer holte und auf den Plattenteller legte. Die hoch intellektuellen Studenten taten natürlich, als fänden sie das Ding grässlich, obwohl sie begierig alles verschlangen, was ihnen an Populär-kultur serviert wurde. Nach den Gesangstunden fiel ein halber Chor bei Sammy ein und verzog sich in eine der hinteren Ecken. Jonah führte das große Wort unter seinen Sängerkollegen, und seine Freunde rückten immer zusammen, damit der kleine Bruder auch noch unterkam. Die sonst so ätherischen Künstler konnten bei Sammy stundenlang zusam-mensitzen und eine Art musikalischen Hahnenkampf veranstalten. Wer schaffte die höchste Note? Wer den profundesten Bass? Wem gelangen die schönsten Übergänge? Es war schlimmer als die Fernseh-Quizshows, die sie sich alle heimlich ansahen, und genauso abgekartet. Die Jurymitglieder waren zwar nie so indiskret, dass sie sich einander eine Rangliste zuwiesen, und sie urteilten auch nur über Sänger, die gerade nicht dabei waren. Aber im ständigen Beurteilen und Klassifizieren konnte doch jeder seinen eigenen Platz in der Hackordnung bestimmen.
    Der Clown dieser Gruppe war ein Bariton mit unbestechlichem Gehör, Brian O'Malley. Ein paar geträllerte Sechzehntel reichten, und die anderen wälzten sich am Boden. Es gab nichts, was er nicht imitieren konnte, vom Bass bis zum Koloratursopran, und niemals musste er er-klären, wer gerade die Zielscheibe seines Spottes war. Seine Zuhörer lachten laut, auch wenn sie wussten, dass sie als nächste an der Reihe sein konnten, wenn sie den Raum verließen. Die Hände züchtig vor der Brust gefaltet, gab Brian einen schaurigen Don Carlos oder eine Lucre–zia Borgia zum Besten, nahm die vertraute stimmliche Eigenart eines Freundes und ließ sie durch den Verstärker laufen, bis sie entsetzlich klang. Danach hörten wir das unglückliche Opfer nie wieder wie zuvor.
    O'Malleys Talent beschäftigte mich. Einmal fragte ich Jonah in der 116. Straße, wo wir relativ sicher vor ihm waren: »Ich verstehe das nicht. Wenn er jeden nachmachen kann bis auf den letzten Pickel, wieso hat er dann ...«
    Jonah lachte. »Wieso er keine eigene Stimme hat?« Als Einziger unter den Juilliard-Gesangstudenten hatte O'Malley eine Stimme so ohne jede Eigenart, dass nichts zu parodieren blieb. »Er will so wenig Angriffsfläche wie möglich bieten. Er wird schon noch Karriere machen, wart's ab. Er wäre ein guter Fra Melitone. Oder Don Pasquale oder etwas in dieser Art.«
    »Aber nicht seiner Stimme wegen«, sagte ich entsetzt.
    »Natürlich nicht.«
    Jonah konnte stundenlang dabeisitzen und der Clique beim Punkte-verteilen zuhören. Ihr Wunsch, alles zu bewerten, war ebenso groß wie die Sehnsucht nach Musik. Für diese Athleten in der Ausbildung waren die beiden Dinge ein und dasselbe. Der Gesang war ein Wettbewerb: der Höchste, der Schnellste, der Schwerste – eine Olympiade für die Seele. Wenn ich sie hörte, hätte ich mich am liebsten in einem Probenraum eingeschlossen und wäre erst wieder herausgekommen, wenn ich das Gebrüll eines Rachmaninow beherrscht hätte.

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