Der Klang der Zeit
eine Anfrage von Mr. Peter Grau erhalten.« Von Grau, dem Star an der Met, der jedes Jahr nur eine Hand voll der vielversprechendsten Schüler annahm.
»Mach keine Witze. Wie das?«
»Er kam zu mir und fragte mich.« Die Pointe einer zotigen Geschichte. Wir kicherten über den Irrwitz, unsere alte verschworene Zweierge-meinschaft erwachte zum Leben. »Er muss wohl denken, dass ich doch noch nicht ganz unbelehrbar bin.« Mein Bruder, der mit siebzehn Jahren mehr wusste als jemals später im Leben.
»Meine Güte. Und was machst du jetzt?«
»Ja, was kann ich denn machen? Ich kann doch zu keinem von beiden nein sagen.«
»Du willst zu beiden gehen?«
Jonah bestätigte es mit einem irren Bühnenlachen.
Er litt Höllenqualen. Woche für Woche ging er zuerst zum einen, dann zum anderen der beiden großen Männer, arbeitete doppelt so viele Stunden wie vorgesehen, versuchte sich zu erinnern, welcher Lehrer ihm welche Anweisung gegeben hatte. Keinem von ihnen verriet er, dass es einen Rivalen gab. Das Ganze entwickelte sich wie eine lächerliche französische Farce, und Jonah hastete von einem Probenraum zum nächsten, verwischte die Spuren, wechselte seinen Ton je nach–
dem, welcher Wochentag war, gab sich als Anhänger zweier Ansätze, die sich gegenseitig ausschlössen. »Mir geht's bestens, Muli. Ich muss nur durchhalten bis zum Semesterende. Nur noch ein paar Wochen. Dann überleg ich mir was.«
»Kein Mensch kann das durchhalten, Jonah. Das schaffst du nicht.«
Er strahlte. »Meinst du? Ein hübsches Sanatorium hoch oben auf einem Berg?«
In spiritueller Hinsicht waren seine beiden Mentoren exakte Gegenpole. Bei Agnese drehte sich alles um das Spüren, um die Körperlichkeit des Klangs, seine Hände modellierten das Kinn, bewegten die Lippen meines Bruders, seine neapolitanische Fülle ein einziges Feuerwerk aus Kummer und Begeisterung. »Der Kerl drückt mir beim Singen auf den Bauch. ›Na los, Strom. Alles kommt von da unten, von tief drinnen.‹ Perverser. Als ob ich in der Grundschule wäre.«
Grau, am anderen Ende des Spektrums, ließ den Körper in einer Wolke des Gedankens verschwinden. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, Jonah zu berühren. Er hielt so weit Abstand, wie das Studio erlaubte, blieb reglos, sprach mit leiser Stimme. »Spüren Sie, wie das Gewicht des Kopfes sich nach hinten verlagert und wie der Kopfsich hebt. Nein! Nicht drücken. Sie müssen ihn mit Ihren Gedanken bewegen. Jetzt lassen Sie Ihren Kehlkopf sinken. Nein, nicht mit den Muskeln! Denken Sie ihn nach unten. Die Muskeln dürfen Sie gar nicht mehr wahrnehmen. Sie müssen ein Geist Ihrer selbst werden, ganz erfüllt von der Macht des Nicht-Tuns.«
Musiker sprechen von Seligkeit, aber das ist ein Wort, das ein Uneingeweihter nur missverstehen kann. Seligkeit gibt es nicht, nur Kontrolle. All die orphische Gymnastik, die beide Gesanglehrer von Jonah forderten, hinterließ ihre Spuren in seinem Nervensystem, hakte sich fest an jeder Gefühlsregung, die Jonah je verspürt hatte. Beide Lehrer waren überzeugt, dass eine bestimmte Muskelstellung identisch war mit dem Gefühl, das sie produzierte. Das Symbol brachte die Sache hervor, und die Möglichkeit, den Prozess umzukehren, durch schiere Muskelbe-wegung das ganze Spektrum menschlicher Gefühle zu erzeugen, war das Größte, was ein Künstler leisten konnte.
Aber wie diese Macht zu erringen war, da waren seine beiden Mentoren entschieden unterschiedlicher Meinung. Agnese stürmte durchs Atelier, flatterte mit seinen mächtigen Flügeln und rief: »Klang ist Bewegung! Lassen Sie Ihre Oberlippe schwingen! Der Ton muss vorn vor Ihren Zähnen schweben. Das hat nichts mit Ihrem Gehirn zu tun. Der Ton färbt den Vokal. Aa-ee-ii-oo-uu! Wir müssen ihr Jubilieren hören! Liebe! Verzweiflung! Größe!« Grau stand reglos da, ganz Vergeistigung, sinnend. »Spannen Sie Ihre Beine beim Einatmen. Entspannen, wenn der Ton ansteigt. Lassen Sie sich auf der Luftsäule tragen. Denken Sie den Ton, bevor er entsteht, singen Sie, schon lange bevor er in Ihre Kehle gelangt, singen Sie in Gedanken!«
Bei Roberto Agnese hatte mein Bruder seine erste Chance, eine berühmte Rolle einzustudieren. Agnese zögerte eine Weile und entschied sich schließlich für Donnizettis Liebestrank – für den armen, dunkelhäutigen Nemorino, für die hinreißende Kavatine, für die eine berühmte, heimliche dicke Träne auf der Wange der Angebeteten im Dunklen. Jonah nahm die Herausforderung an, schrieb in
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