Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
und jenseits der Mason-Dixon-Linie erobern können. Aber Bestform erreichte er nur die Hälfte der Zeit.
    Wills Laster war der Wunsch, selbst Musik zu schaffen, nicht nur der Botenjunge für andere zu sein. Er ließ seine wunderbare Stimme erklingen, doch dann erwies sich das Klavier in der Ecke des Probenraums als zu große Versuchung. Ich ertappte ihn eines Tages dabei, wie er an dem arbeitete, was nicht seine Arbeit war: Er saß am Klavier, rings umgeben von den belastenden Indizien einer neuen Partitur. »Du solltest Komposition studieren, weißt du das?«
    Irgendwie muss er meine Bemerkung in den falschen Hals bekommen haben. »Ja, das weiß ich.« Doch dann verzieh er mir meine Unwissenheit und spielte unvermittelt eine Passage aus dem mittleren Satz des Gitarrenkonzerts von Rodrigo, eine Melodie, so traurig, dass sie meine Dummheit vergessen ließ. Er rutschte auf der Bank zur Seite. »Komm her. Wir spielen was zusammen.«
    Ich saß zu seiner Linken und wartete auf Anweisungen. Ich wartete vergebens. Will spielte weiter, entlockte dem Thema des spanischen Komponisten alles, was es über das Gefühl des Verlassenseins zu sagen gab. Er spielte ohne Noten, und doch bewegten sich seine Hände mit schlafwandlerischer Sicherheit. Einige Takte lang saß ich reglos an seiner Seite, bis Will mir durch ein Nicken das Offensichtliche zu verstehen gab: Ich sollte die Bässe übernehmen und dabei meinen Weg ebenso erspüren wie er.
    Mein Fluch ist ein nahezu perfektes musikalisches Gedächtnis. Einmal Hören, gepaart mit meinem Gefühl für die Regeln der Harmonie, und ich finde den Weg zu fast jedem verlorenen Akkord. Ich hatte das Stück von Rodrigo nur das eine Mal gehört, als Will es mir vorspielte. Aber es war immer noch da, heil und unversehrt. Mit Wills Hilfe hatte ich es schnell wieder vor Ohren, wenn nicht gar Note für Note vor Augen.
    Will lachte, als unser Zusammenspiel schließlich Gestalt annahm. »Ich wusste, du kannst es, Bruder Joe. Ich wusste, du hast es im Blut.« Solange er nicht erwartete, dass ich mich mit ihm unterhielt, lief alles wie am Schnürchen. Wir meisterten die Wechsel der Tonarten und machten uns schließlich auf den Rückweg zum Anfang und zur Wiederaufnahme des Themas. Plötzlich warf Will den Kopf in den Nacken und sagte: »Auf geht's, Mix.« Und ehe ich wusste, wie mir geschah, verließen seine Finger den sicheren Boden und ergründeten verborgene Regionen. Sie befreiten die lange, melancholische Melodie von allen Fesseln und entlockten ihr ungeahnte Tiefen.
    Ich sah seine Bewegungen und hörte genau, was er spielte: Töne und Akkorde, die nicht in der Partitur standen und doch dort hätten stehen können, in einer Welt ohne Mittelmeer. Im Kern war es noch immer Rodrigo. Doch der blinde Romantiker hätte niemals solche Akkorde schreiben können. Die Musik, die unter Wills Händen entstand, konnte das väterliche Erbe nicht verleugnen, aber er lenkte die getragene Troubadourweise in andere Bahnen, weg von der Iberischen Halbinsel und hin zu unfreiwilligen Atlantiküberquerungen in ferner Vergangenheit. Er forderte diese nur scheinbar alte Melodie heraus, wie ein nicht anerkannter Halbbruder, der eines Tages an die Haustür klopft, die gleiche Nase, die gleichen Augen, das gleiche Kinn. Du kennst mich nicht,        aber ... Ein Mischling. Mischmasch. Kein Gaul auf der Welt, der ein Vollblut ist.
    Meine Finger waren stocksteif. Ich hörte genau, was Will tat, noch bevor es soweit war. Aber ich konnte trotzdem nicht mit ihm Schritt halten, kam immer erst an, wenn Will mich längst im Kielwasser seiner Harmonien zurückgelassen hatte. Ich kannte die Art von Musik, die er machte. Man konnte nicht in diesem Land leben, ohne sie mit jedem Atemzug aufzunehmen. Aber ich hatte nie die Regeln gelernt, die Gesetze der Freiheit, die diese Improvisationen in Gang hielten, die sie retteten vor dem keimfreien Tod der Erstarrung.
    Ich spürte, wie ich mich in erbärmliche Klischees flüchtete. Meine linke Hand suchte Halt an der sicheren Vorlage und hatte mit Wills Spiel so viel zu tun wie eine Minstrelshow mit einem Spiritual. Er öffnete die Pforten der Iberischen Halbinsel und befreite jeden Mohren, den es je dorthin verschlagen hatte, und ich trieb hilflos in der Meerenge von Gibraltar und hielt verzweifelt Ausschau nach einer Sandbank oder einem Stückchen Holz, an dem ich mich halten konnte. Seine widersprüchlichen Intervalle loteten dunkle, geheimnisvolle Tiefen aus. Bei mir waren es

Weitere Kostenlose Bücher