Der Klang der Zeit
einfach nur Dissonanzen. Fehler.
Will lachte mir über die Wellen seiner Improvisationen hinweg zu. »He, wo bleibst du? Steht mir denn keiner bei?« Er dachte, ich würde nach ein paar Takten mitspielen. Als das nicht geschah, verfinsterte sich seine Miene. Überrascht verlangsamte er das Tempo. Seine Enttäuschung machte es mir noch schwerer, den Zugang zu finden.
Ich nahm allen Mut zusammen und stürzte mich in die Fluten, griff nach jedem bisschen Theorie, das ich je aufgeschnappt hatte. Ich dachte mich in die Modulationen hinein. Ein paar Phrasen lang lebte ich auf. Will spielte eine Sequenz, die ich begriff; ich gab die Sicherheit der versetzten Synkopen auf, mit denen ich mich bis dahin irgendwie durchgemogelt hatte, und wagte mich hinaus zu ihm auf die offene See. Ich ließ mich von ihm mitziehen, und wir spielten tatsächlich zusammen, glitten gemeinsam ein paar Fuß hoch über den Wellen. Ich weiß nicht, wie lange wir so dahinsegelten – vielleicht nur ein Dutzend Takte lang. Aber es geschah wirklich. Und ein tiefes Grollen aus Wills Kehle war unsere Begleitmusik. Über der allumfassenden Traurigkeit der Melodie ertönte ein weiches, gedämpftes Lachen, »Das ist es, Mix. Na los, sag's mir!«
Will gab keine Ruhe, er drängte mich weiter hinaus in die eiskalte Strömung, bis ich das Ufer nicht mehr sah. Er spielte verhalten, wartete, dass ich die Führung übernahm. Er übergab mir das Steuer. Und wie bei einem unerfahrenen Lotsen, der sein Schiff durch die gefährlichsten Untiefen gelenkt hat und jetzt in alle Richtungen nur noch den offenen Horizont sieht, wich auch bei mir die Begeisterung einem Gefühl der Panik. Ich kam nicht weiter, trat auf der Stelle, bis Will wieder übernahm. Aber er war noch nicht fertig mit mir. Er machte einen behutsamen Vorstoß, und eine Folge von dreißig Sekunden langen Noten machte mir deutlich, wie weit er die Segel gerefft hatte, um mir das Überleben möglich zu machen. Schnipsel von vertrauten Melodien schwammen an die Oberfläche seiner Bouillabaisse, Anklänge an Kirchenlieder, die ich instinktiv erkannte, Melodien, über die ich alles wusste, nur nicht, wie sie hießen. Er führte uns mit Siebenmeilenstiefeln auf eine Rundreise durch das unterirdische Amerika, zu den Flüssen, die gerade erst anfingen, sich mit dem Hauptstrom zu vermischen – zu der Musik, vor der ich mein Lebtag auf die andere Straßenseite ausgewichen war, sobald sie sich auch nur in der Ferne zeigte.
Von Zeit zu Zeit kam auch Aranjuez wieder zum Vorschein und kämpfte um einen Platz an der Sonne. Alles, was wir gemacht hatten, die freien Zitate, das willkürliche Wandern, war nur Vorbereitung für die musikalischen Reise durch die Harmonien, die in diesem ursprünglichen Material verborgen lagen. Aber das Spanien, das wir erschufen, wurde von dem gleichen Bürgerkrieg erschüttert, vor dem Rodrigo geflohen war, um sein Stück zu schreiben. Will häufte Akkord auf Akkord, erweiterte seine Palette von überraschenden Intervallen. Er war sicher, dass ich mich befreien, dass ich einen Weg zu neuen Melodien finden konnte, indem ich mich zurückdachte, zurück zu den Vorfahren, die das Geheimnis dieses Fluges entdeckt hatten. Will bahnte mir einen Weg, Note für Note, sicher, dass ich es an seiner Seite schaffen konnte. Sein Glaube an mich war schlimmer als der Tod.
Ich strauchelte, suchte Zuflucht bei billigen Banalitäten, klimperte Hintergrundmusik wie ein Barpianist in der Bourbon Street, der zwölf Takte lang Septakkorde aneinander reiht und damit Touristen glücklich macht. Jedes Stückchen Technik, das ich je gelernt hatte, kettete mich nun an den Richtblock. Ich war ihm ein Klotz am Bein. Er konnte mit zwei Händen mehr ausrichten als wir zusammen mit vieren. Mir fielen nur noch fadenscheinige Lückenbüßer ein. Meine Riffs versiegten. Ich ließ alles in einem langen Diminuendo verklingen und gab auf.
Will brachte das Stück als Solist zu Ende, und mit einem Einfallsreichtum, der noch größer war als beim Aufbruch, kehrte er zur Ausgangstonart zurück und ließ seine Finger heimkehren nach Aranjuez. Er sah mich an. »Du kannst es nicht einfach so spielen? Du brauchst es vor dir, die Noten auf dem Papier?« Es war freundlich gemeint, aber mit jedem Wort machte er meine Verlegenheit nur noch schlimmer. Mein Gesicht glühte. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Mach dir nichts draus, Bruder Joe. Manche brauchen die Noten, und manche wissen nicht mal, wie die Noten heißen.«
Er
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