Der Klang der Zeit
die teure Partitur mit Bleistift die Zeichen für seine Interpretation.
Dann kam Peter Grau auf den Gedanken, ihm dieselbe Rolle anzubieten. Verzweifelt wandte Jonah sich an mich. »Es gibt ein höheres Wesen, Joey. Und Er hat es auf meinen Mulattenarsch abgesehen!«
Er konnte sich kein zweites Exemplar der Noten leisten. So musste er jeweils vor einer Stunde beim einen Lehrer die Anmerkungen des anderen ausradieren und ersetzte sie durch die Zeichen des anderen, sorgfältig abgeschrieben bis auf den kleinsten Krakel. Er war wie ein Plagiator, machte einen Fehler nach dem anderen, hoffte, dass man ihm auf die Schliche kam. Es war eine heroische Arbeit. Jede Wiederherstellung der Partitur kostete ihn eine halbe Nacht.
Die »Heimliche Träne« des einen Lehrers war das genaue Gegenteil der Träne des anderen. Agnese wollte sie feucht und schmachtend. Grau wollte sie so trocken wie die Sahara im Winter. Agnese wies Jonah an, er solle die erste Note jeder Phrase schmettern und dann wie ein Raubvogel eine Quinte tief hinabstoßen und den Rest der Melodie mit den Krallen packen. Grau forderte einen präzisen Einsatz, dann ein beständiges Anschwellen. Für den Italiener sollte er den Schmerz der gesamten Menschheit hineinpacken. Der Deutsche hieß ihn stoisch der Absurdität unserer Existenz trotzen. Jonah wollte nur mit dem Leben davon kommen.
Sie setzten ihm zu, bis er litt wie Joanne Woodward in Eva mit den drei Gesichtern, dem Oscar-gekrönten Film aus dem Vorjahr um eine Frau mit multipler Persönlichkeit. Bald wusste Jonah nicht mehr, wer was von ihm verlangt hatte. Er konnte mitten in einer Note von einer Interpreta-tion zur anderen wechseln, wenn er auch nur das kleinste Zucken in den Augenbrauen des jeweiligen Lehrers bemerkte. Dann kam die Woche, in der Mr. Grau sich vorbeugte und sich die Bleistiftanmerkungen meines Bruders ansah. »Was ist denn das, Sostenuto, an dieser Stelle! Das habe ich aber mit Sicherheit nicht so gesagt.«
Jonah murmelte etwas über den Scherz eines Freundes und griff beherzt zum Radiergummi.
»Wer würde auf so eine Idee kommen, an dieser Stelle ein Sostenuto!«
Jonah schüttelte den Kopf, entsetzt bei dem bloßen Gedanken.
»Sie werden doch nicht glauben, dass man es besser so singen sollte?«
Jonah machte ein empörtes Gesicht.
»Aber warum eigentlich nicht? Versuchen Sie es doch einmal.«
Wendig wie er war, nahm mein Bruder es sogleich in Angriff und gab sich alle Mühe zu verbergen, dass er es so eingeübt hatte, für jede zweite Sitzung in den vergangenen drei Wochen.
»Hmmm.« Grau runzelte die Stirn. »Gar nicht uninteressant.«
Als Agnese ihn an derselben Stelle unterbrach und ihm – nur so zum Spaß – vorschlug, es doch einmal stakkato zu singen, wusste Jonah, dass sein Schwindel aufgeflogen war. Eine Woche lang straften seine Lehrer ihn mit antiphonischem Schweigen. Mein Bruder entschuldigte sich bei beiden.
Grau legte den Kopf schief. »Was haben Sie denn gedacht, wen Sie mit so etwas täuschen können?«
Agnese lachte. »Dachten Sie, diese ›Heimliche Träne‹ in Stereo sei, wie Sie Amerikaner sagen, Zufall gewesen?«
Mein Bruder fragte nicht, wie schnell sie seinen Trick durchschaut hatten. Aber so zerknirscht, wie er es nur zustande bringen konnte, erkundigte er sich: »Warum?«
»Sehen Sie es als Ihre Erziehung in Sachen Aufführungspraxis an«, sagte Grau. »Glauben Sie uns: Von jetzt an werden diese Dinge Sie mehr Tränen kosten als jede Arie von Donizetti.«
So endete der Versuch meines Bruders, zwei der besten Lehrer der Schule hinters Licht zu führen. Für kurze Zeit machte die Eskapade Jonah zum Brando des Konservatoriums. Draußen war die Jugendbewegung in Gang gekommen, nahm Anlauf zur Eroberung der Welt. Doch für uns in unseren schallgeschützten Probenräumen waren falsche Tempi nach wie vor die größten vorstellbaren Verbrechen. Wir hatten nicht den geringsten Begriff von der Welt, in der wir lebten. Bei Sammy's wurde verstohlen über Marihuana und Heroin getuschelt, mächtige Drogen, die nach allem, was man hörte, die Jazzmusiker im Village schizophren und die Unterschicht von Harlem zu Killern machte. Sie wälzten das Problem stundenlang. »Wenn es einen besser spielen ließe, eine Zeit lang, und dann brächte es einen um. Würdest du es nehmen, für deine Kunst?«
Greifbarer war die Grenzüberschreitung beim Sex. Überall blühten Gerüchte, dass es mit der Hand gemacht wurde, mit dem Mund sogar, in dunklen Kabinetten, so klein,
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