Der Klang der Zeit
weiß, dass jeder Pfad schließlich am selben Wasser endet und jede Freude und jeder Schmerz nur ein Irr-licht ist, das am anderen Ufer des unüberwindlichen Flusses funkelt. Br bestand die Prüfung mit Auszeichnung.
Ein paar Tage darauf veranstaltete der Zirkel, der sich bei Sammy's traf, eine kleine Party für ihn. Mein Bruder gehörte noch immer zu diesem Grüppchen, genoss das Gefühl der Freiheit, das sie ihm gaben. Ich hatte mich angewidert abgewandt. Ich spielte lieber tausend weitere Male die Coda meiner neuesten Beethovensonate, als dass ich mir auch nur noch einmal die abschätzigen Bemerkungen über meine Mitstreiter anhörte.
Aber Jonah hatte mich gebeten, mich bei dieser Feier blicken zu lassen. Als ich eintraf, war Brian O'Malley bereits in voller Fahrt, so wie ich ihn fast unsere gesamte Studienzeit hindurch gekannt hatte. Als er mich sah, wandte sich sein Spott sogleich dem Thema Rasse zu, wie so oft, wenn ich in der Nähe war. Der Beweis für O'Malleys liberale Einstellung. Zu unserer Unterhaltung mimte er den Dorftrottel hinter einem Drugstore-Tresen in einem Kuhnest in Carolina: »Sieht ja aus, als ob ihr hier 'ne Weile sitzen bleiben wollt, Leute. Wie wär's mit 'ner kleinen Erfri-schung? 'türlich müsst ihr sie draußen trinken. Aber wenn ihr fertig seid, könnt ihr wieder reinkommen.«
Ich blickte mit einem abwesenden Lächeln zum Fenster hinaus, tat mein bestes, seinen Humor zu ertragen. Auf der anderen Straßenseite tauchte hinter einem Lieferwagen eine Frau auf und ging Richtung Norden. Sie trug ein marineblaues dreiviertellanges Kleid mit weiten Trompetenärmeln, schon seit Jahrzehnten aus der Mode. Ihr Haar war ein samtschwarzes Vogelnest. Nur einen einzigen Blick erhaschte ich von ihrem Gesicht. Es war genau der Farbton, nach dem zu suchen ich längst aufgegeben hatte. Jetzt wo ich sie dort sah, allein, unterwegs nach Norden, frei zu sein, was sie sein wollte, da wusste ich, dass sie erschienen war, damit ich sie entdeckte.
Ich stolperte beim Aufstehen und verdarb O'Malley die Pointe. Mit einer hastigen Entschuldigung stürmte ich los. Ich sah sie auf dem Bürgersteig. Sie segelte davon, ein schönes blaues Boot in der Strömung des Spätnachmittags. Ich folgte ihr über den Broadway und bog hinter ihr rechts in die La Salle Street ein. Sie ging weiter nordwärts, die Amsterdam Avenue hinunter, hundert Meter vor mir her. Ich versuchte näher heranzukommen, aber sie ging so schnell, ich fürchtete schon, sie liefe vor mir davon.
Ich verfolgte sie weiter, jetzt auf Höhe des City College, aber mehr und mehr hatte ich das Gefühl, als sei ich gar nicht mehr wirklich da. Ich sah mich von oben, einen Teenager, der einer wildfremden Frau nachlief. Mit jedem Schritt schämte ich mich mehr. Was ich hier tat, tat ich nicht aus Begierde; es war ein einfacherer Impuls, ein Bedürfnis, wie ich es noch nie im Leben verspürt hatte. Eine Frau, die ich besser kannte als mich selbst, ging durch Claremont, das Viertel um meine Schule, und suchte nach mir. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich gleich an der Straßenecke in einem Cafe saß, in der Gewalt von Dummköpfen. Sie hatte die Suche nach mir aufgegeben. Jetzt musste ich retten, was noch zu retten war.
Die Gebäude rechts und links von mir schlossen sich zu einem Tunnel zusammen. Ich spürte die Luft auf meiner Haut nicht mehr. Ich feuerte mich an, von meilenweit oben. Ich war meine eigene Marionette, die Hauptfigur in meinem Leben, in einer Geschichte, die sich mir gerade erst enthüllt hatte. So lebendig, so gegenwärtig hatte ich mich seit frühesten Kindertagen nicht mehr gefühlt, seit unseren musikalischen Familienabenden. Alles war gut. Alle Melodien würden am Ende zu einer wunderbaren Schlusskadenz zusammenfinden. Jeder Mensch im Gewimmel dieser Straße hatte eine Note beizusteuern.
Aber bei alldem sah ich mein Lotsenboot vor mir auf den Wellen tanzen, der Gang streng und entschlossen. Solange ich sie im Blick behielt, war mir alles andere egal. Ich kam nahe genug heran, dass ich ihren Nacken unter dem perfekt fallenden Haar erkennen konnte. Einen Moment lang packte mich in dem zunehmend schwächer werdenden Spätnachmittagslicht die Panik. Ihre Haut schien sich zu verändern, eine Tarnung wie bei einem Chamäleon. Die getönten Fensterscheiben bei Sammy's hatten mich getäuscht. Das Gefühl langer Bekanntschaft schwand. Dann drehte sie sich um und blickte
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