Der Klang der Zeit
dass es nur Stehplätze gab. Eine unschuldige Flötistin – schlank, blond, der Schwarm aller Männer – musste die Schule verlassen, und der phantasievollen Spekulation über die Um-stände waren keine Grenzen gesetzt. Ein Hauch von Verruchtheit wehte durch die Hallen, die Spur einer zerbrochenen Parfümflasche, die auch noch so viel Ammoniak nicht vertreiben konnte. Die Freunde meines Bruders wurden nicht müde zu diskutieren, welche der Gesangstuden-tinnen mit ihren diversen Techniken am besten ihre Bedürfnisse befriedigen könnten – das Tremolo der Koloraturen, das Rund der Altistinnenlippen ... wir waren Kinder, wie dieses Land sie nie wieder sehen wird. Lange über das Alter hinaus, in dem die, die uns einst in Hamilton Heights drangsaliert hatten, ihre ersten Gefängnisstrafen verbüßten, hatten Jonah und ich uns eine Naivität bewahrt, die wir für Sünde hielten. Aber als die Zeit für echte Sünden kam, hatten wir alle Vorteile des Spätzünders.
Mit seiner neuen, längst sicher gewordenen Stimme bekam Jonah fast jede Rolle, die er sich wünschte. Es blieben noch zwei Jahre College, aber schon jetzt sang er bei den Produktionen der Abschlussklasse. Wenn ein Part nach Leichtigkeit und Klarheit verlangte, war das Vorsingen pure Formalität. Er hatte eine komische Ader – der Page aus dem achtzehnten Jahrhundert, dessen Übermut nur noch von seinem rührenden Eifer übertroffen wird. Er sang einen Bachschen Evangelisten, der die Hälfte der Agnostiker im Saal beinahe zur Frömmigkeit bekehrte, zumindest den einen Abend lang. Er lernte schauspielern. Mit neunzehn beherr-schte er schon den vernichtenden Überraschungsschlag, die Art, das Publikum einzulullen, bis die Leute glaubten, sie sähen das Leben eines anderen armen Schluckers, und dann, als werfe er einen unsichtbaren Hebel um, zeigte er ihnen, wessen Geschichte es in Wirklichkeit war.
Er sang unersättlich. Er nahm alles an, was seit dem Krieg entstanden war. Er konnte sich die Premieren aussuchen, denn nur die wenigsten anderen waren erpicht auf die Strapaze, eine neue Technik einzustudieren, mit der sie dann nur ein einziges Mal auftraten. Aber genauso sang er französische Petitessen, die er schon als Sechsjähriger beherrscht hätte. Es gab nichts, was er an der Claremont Avenue nicht sang, von keltischen Volksliedern bis zu ostkirchlichen Monodien, und dazwischen Sturm und Drang, Buffo-Arien, Schmachtfetzen aus der Renaissance. Er machte keinen Unterschied zwischen einem Requiem und einem koketten Couplet. Er brachte die Steine zum Weinen und ließ unschuldige Tiere vor Scham vergehen: Orpheus, wie Peri, Monteverdi, Gluck, Offenbach, Krenek und Auric ihn sich vorgestellt hatten.
In den frühen Jahren des Lebens hört man alles, was man hört, zum ersten Mal. Nach einer Weile füllt sich das Ohr, und das Gehör kehrt von der Zukunft in die Vergangenheit zurück. Was man noch Neues hören kann, ist weit weniger als das, was man schon gehört hat. Die Schönheit von Jonahs Stimme kam daher, dass sie diese Entwicklung umkehrte. Mit jeder neuen Phrase, die aus seinem Munde kam, befreite er seine Zuhörer von alten Noten, und sie wurden jünger dadurch.
Zu seiner Gesangprüfung fand sich tatsächlich Publikum ein. Er bestand darauf, dass er mich als Begleiter bekam. Wir probten die Stücke, größtenteils deutsche Kunstlieder aus dem neunzehnten Jahrhundert, wochenlang. Er nannte die melodramatischen Standardnummern »Ohrnarkose«. Bei der Generalprobe gaben wir Schuberts »Irrlicht« aus der Winterreise noch den allerletzten Schliff. Ich war bis in die Mitte der zweiten Strophe gekommen, des beinahe nihilistischen
Bin gewohnt das Irregehen,
's führt ja jeder Weg zum Ziel:
Uns're Freuden, uns're Leiden,
Alles eines Irrlichts Spiel!
Plötzlich höre ich Jonah singen:
Pepsi-Cola ist die Masche,
Pepsi-Cola ist der Clou.
Einen Nickel für die Flasche,
Und du fühlst dich frisch im Nu!
Noch während er die letzten Worte sang, schlug ich den Klavierdeckel zu. »Verdammt nochmal, Jonah, was zum Teufel machst du da?«
Er sah mein Gesicht und musste laut lachen. »Joey, das ist doch nur eine blöde Schulprüfung. Wir dürfen uns davon nicht verrückt machen lassen.«
Ich war mir sicher, er würde den Gag auch bei der Prüfung bringen, wenn nicht mit Absicht, dann als einstudiertes Versehen. Aber er sang die Worte, wie sie im Text standen, ein alter Mann, doppelt so alt wie unser Vater, der aus bitterer Erfahrung
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