Der Klang der Zeit
griff wieder in die Tasten. Die Akkorde waren leise hingetupfte Kommentare, seine neuesten Reflexionen über das Thema.
Ich wollte ihn zum Aufhören bringen. »Wo hast du das gelernt?«
Will lächelte, aber er lächelte eher seine Hände an als mich. Seine Finger krabbelten über die Tasten wie Welpen in einem Körbchen. Er schien selbst überrascht, welche Freiheiten sie sich erlaubten. »Ach, überall und nirgends, Mix. Irgendwie lernt man das.«
Irgendwie hätte ich es lernen können. Lernen sollen.
Er ließ ein Stakkato von Akkorden los, eine Parodie der ersten Takte der Waldstein–Sonate, damals gerade mein Peiniger. Will Hart sah mich überrascht an. Ich hatte mein Erbe verspielt. Wenn ich alles spielte, was Beethoven von mir hören wollte, dann musste ich doch auch selbst etwas spielen können? Dabei wusste ich nicht einmal, was er überhaupt
damit meinte. Aber die Töne, die er freigesetzt hatte, klangen noch in meinen Ohren nach, stellten das Material, von dem sie herkamen, in den Schatten. »Warum ... komponierst du keine solche Musik?«
Er starrte mich an. »Ja was denkst du denn, was wir zwei da gerade gemacht haben?«
»Ich meine, warum schreibst du es nicht auf? Hältst es fest, statt einfach nur ... Ich meine nicht statt... Zu den anderen dazu?« Seine niedergeschriebenen, akademischen Kompositionen wirkten welk, wie Treibhauspflanzen im Vergleich zu der Musik, die ihm gerade spontan eingefallen war. Wenn jemand tat, was er gerade getan hatte, aus dem Nichts heraus die aufregendsten Töne erschuf, warum vergeudete der seine Zeit mit braver Schulmusik, die kaum eine Chance hatte, dass sie auch nur ein einziges Mal erklang?
»Manche Sachen sind zum Aufschreiben da. Und manche dazu, dass sie einen vom Aufschreiben befreien.«
»Was du da gerade gemacht hast, das war besser als das Stück selbst.«
Er verzog nur die Miene bei der Blasphemie. Kein Mensch war besser als der blinde Spanier. Und schon wieder hetzte er los, durch eine kunstvolle Tonsequenz, die ich erst nach ein paar Augenblicken als überhitzten und dann wieder ausgekühlten Qintenzirkel erkannte. Er hob die Hände und überließ mir die Klaviatur. Ich legte die Hände auf die Tasten, obwohl ich doch wusste, dass es nichts nützen würde. Alles, was ich in den Fingern hatte, waren Griegs Lyrische Stücke. Weichgezeichnete Studioporträts aus dem Nordeuropa des neunzehnten Jahrhunderts.
»Ich kann das nicht.« Er hatte mich ertappt. Mich bloßgestellt. Ich legte die Finger auf die Tasten, aber ich drückte sie nicht.
Mit der linken Hand packte er mich im Nacken, als sei das der Grundton für seinen nächsten stürmischen Akkord. »Schon in Ordnung, Bruder Joe. Ein jeglicher diene Gott auf seine Weise.«
Ich zuckte zusammen bei den Worten, aber inzwischen war ich alt genug, nicht zu fragen, wo er sie gelernt hatte. Er hatte sie irgendwo aufgeschnappt, genau wie meine Mutter: überall und nirgends.
Von da an nahm ich mir jeden Tag am Ende meiner Übungen, wo eine weitere Wiederholung der Tageslektion mir eher geschadet als genützt hätte, ein paar Minuten. Zehn Minuten – ein Gebet an mich selbst, eine Übung, mit der ich mir einprägen wollte, wie Wilson Hart Musik aus dem Nichts geschaffen hatte. Meine Finger begannen sich zu bewegen, ohne dass Noten sie leiteten. Aber die schwierigsten Töne vom Blatt fielen mir leichter als der simpelste Bluesakkord.
Ich erzählte Jonah davon. »Du musst dir anhören, wie Will Hart improvisiert. Nicht von dieser Welt.« Und selbst mit solchem Lob wurde ich meinem Freund noch nicht gerecht. Etwas in mir wollte sie beide schützen, wollte sich verbergen, wo keiner noch mehr von mir verlangen konnte.
»Wundert mich gar nicht. Wieso hängt er eigentlich nicht mit den Jazzern rum?«
Jonah hätte es damals nicht gehört, selbst wenn er wirklich zum Zuhören gekommen wäre. Er war zu sehr mit seiner eigenen musikalischen Verwandlung beschäftigt. Einmal kam er zu mir, die Lässigkeit selbst. »Die Kurse für das nächste Semester sind verteilt worden. Schuman will, dass ich bei Roberto Agnese studiere. Schuman, Muli. Der Rektor dieser Anstalt. Ich dachte, der weiß gar nicht, dass es Undergraduates über-haupt gibt.«
Agnese, der altgediente Tenor, gehörte zu den angesehensten Gesang-lehrern der Schule. »Das ist großartig, Jonah. Die Weichen sind gestellt.« Aber wohin die Reise gehen sollte, davon hatte ich keine Ahnung.
»Da gibt's nur einen Haken, mein Lieber. Dein großer Bruder hat auch
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