Der Klang der Zeit
in meine Richtung. Nun war ich mir wieder so sicher, dass ich beinahe gerufen hätte. Sie stammte von meiner Insel, der Insel, von der ich geglaubt hatte, ich lebte darauf ganz allein.
Sie bog nach rechts, und ich folgte, mir nun meiner Sache sicher; aber ich übersah eine Querstraße. Ich kam in ein Viertel, in dem ein Krieg tobte, und die Kämpfer erstarrten, als ich vorüberhastete. Zwei muskelstrotzende Männer sahen mich von einem Hauseingang aus finster an. Jeder in dem ganzen Viertel erkannte mich sofort als Fremden. Aber das blaue Kleid vor mir tauchte tiefer ein in diese zerstörten Straßen, schwebte wie ein Engel über einem Schlachtfeld.
Zwei weitere Male bog sie ab, ich immer hinter ihr. Eine Bewegung in der Nähe lenkte mich ab. Als ich wieder nach vorn blickte, war die Frau in dem blauen Kleid fort. Sie musste in einem Hauseingang verschwunden sein. Ich suchte alles ab, aber ich fand sie nicht mehr. Ich stand wie benommen an der Straßenecke und wartete, dass das Schicksal kam und mich holte. Leute drängten sich an mir vorbei, ungeduldig, teilnahmslos. An einer Haltestelle hundert Meter vor mir spien Busse ihre Passagiere aus. Alles um mich herum wurde feindselig, das Viertel roch meine Angst, es spürte, dass ich kein Recht hatte, dort zu sein. Aus allen Rich-tungen kamen die Menschen auf mich zu, und ich ergriff die Flucht.
Die Straßen, durch die ich zurückfloh, kamen mir feindseliger vor als jene, durch die ich gekommen war. Ich wandte mich zu früh nach Westen und kam in eine Straße, die nach einem Häuserblock diagonal durch das Gittermuster wieder nach Norden führte. Ich blieb stehen, wandte mich um, ging ein paar Schritte, wandte mich wieder um, verwirrt. Ich lief eine lange, heruntergekommene Allee entlang. Mein Körper über-nahm, und ich hastete zurück zur, wie ich hoffte, Amsterdam Avenue.
Plötzlich war ich gar nicht mehr in New York. Die Leute um mich her stammten nicht von hier, sie bewegten sich zu langsam für 1960. Ich kann nicht sagen, wie lange ich dort stand. Die Zeit war aus den Fugen. Ich war unterwegs in den Straßen einer Stadt, die ich nicht wieder erkannte, unter Menschen, die nicht zu mir gehörten, an einem Tag, den ich mit keinem von ihnen gemeinsam hatte.
Ich verfluchte mich dafür, dass ich sie verloren hatte. Ich spürte die Gegenwart der Frau noch so sehr, ich war mir sicher, dass ich sie wiederfinden würde, sobald es mir bestimmt war. Ich wusste jetzt, wo sie wohnte, welche Straßen sie nahm, wie sie sich bewegte. Das konnte nicht meine einzige Chance gewesen sein. Ich war achtzehn Jahre alt. Und ich hatte bis zu diesem Augenblick gewartet, mich zu verlieben, in ein Bild, das noch flüchtiger war als Musik.
Jonah fiel über mich her, als ich nach Hause kam. »Was zum Teufel sollte das, da in dem Lokal ?«Ich brauchte eine Weile, bis ich mich überhaupt erinnerte: mein Aufbruch bei Sammy. »War das nötig, dass du mich bloßstellst vor den ganzen Leuten?« Er wollte eine Antwort. Ich hatte keine.
»Hör zu, Jonah. Ich habe gerade die Frau gesehen, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen werde.«
»Ach?« Der Schauspielunterricht zahlte sich aus. »Dein ganzes Leben? Wann fängt das an?«
»Ich meine es ernst.«
»Sicher meinst du das ernst. Der kleine Joe ist doch kein Witzbold. Weiß die Frau es schon?«
Am nächsten Nachmittag ging ich wieder mit zu Sammy und von da an zwei Wochen lang jeden Tag. Ich ließ das Schlimmste über mich ergehen, was die hohe Kultur zu bieten hatte. Jonah hielt es für eine Bußübung und belohnte mich mit lobenden Worten. Aber ich hielt meine Wache, so gleichmäßig und so notwendig wie Essen und Schlafen. Sie musste einfach zurückkommen. Es konnte doch nicht sein, dass das Schicksal sie mir nur dies eine Mal vor die Nase gehalten hatte und sie dann für immer verschwinden ließ. Heute Nachmittag, morgen, spätestens bis Monatsende ...
Als sie sich nicht wieder blicken ließ, wurde ich reizbar. Aus Ungeduld entstand Verwirrung. Nach einer Woche versuchte ich die Route wiederzufinden, die ich in Richtung Norden gegangen war, zwischen Häuserblocks, die ich nicht wiedererkannte. Ich ging nicht mehr zu Sammy, ich tat überhaupt nichts mehr, saß nur noch in einem Probenraum, gelähmt, der letzte hartnäckige Poliofall, infiziert von einem einzigen Blick auf dieses Mädchen, von dem ich nicht einmal den Namen erfahren würde.
Nachdem er meine Qualen einen ganzen Monat lang beobachtet hatte, glaubte er mir. Eines
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