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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Abends fragte er ganz unvermittelt: »Wie sah sie aus?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Du würdest sie sofort erkennen. Wenn du sie siehst, weißt du, dass sie es ist.«
    So endete für mich der Traum der fünfziger Jahre, bevor ich selbst daraus erwachen konnte. Um uns herum, in New York und weiter fort, änderten sich Tonart und Takt, als habe die neue Ziffer tatsächlich auch eine neue Zeit mit sich gebracht. Mit dem neuen Jahrzehnt begann mein Erwachsenenleben. Überall flammten Revolutionen auf, nur nicht in meinem Bruder und mir. Mit dem Umspringen der Kalenderzahl wurde aus der Schwarzweißwelt eine farbige. Und als müsse es in der Natur einen Ausgleich dafür geben, wurden Jonah, Ruth und ich von Farbigen zu Schwarz und Weiß.
    Der kahlköpfige General räumte den Platz für den hutlosen Jungen mit dem vollen Haar. Die Großmächte manövrierten sich an den Rand des nuklearen Abgrunds, jede von beiden bereit zum Untergang ohne Wimpernzucken. Schwarze Studenten zogen in weiße Institutionen ein. Ich verbrachte nun weniger Zeit in meinem bombensicheren Übungs-keller und mehr draußen an der Oberfläche, wartete, dass die marine-blaue Frau mit der perfekten Hautfarbe mich holen kam, bevor die Welt in Atompilzen aufging.
    Die ganze Nation – der weiße Teil jedenfalls – sah sich Mitch Millers Fernsehshow zum Mitsingen an, wo am unteren Rand des Bildschirms die Textzeilen mit einem darüber hüpfenden Punkt erschien. Die Leute sangen wirklich mit. Vielleicht nicht in New York, aber drüben jenseits des Hudson und von da an westwärts im ganzen Land: Sie saßen vor ihren Fernsehgeräten und sangen laut, ein Chor von Millionen, alle vereint und doch jeder für sich in seinem Wohnzimmer, wo keiner den anderen hören konnte, in einem letzten großen gemeinschaftlichen Gesang, bei dem noch einmal die ganze Nation in einer gemeinsamen Tonart erklang.
    Lenny Bruce trat in der Carnegie Hall auf und brachte eine Nummer, die für alle Zeiten der Liebling meines Bruders bleiben sollte. Jonah kaufte es sich als Schallplatte, seine erste Comedy–Scheibe, und spielte sie so oft, dass sie am Ende ganz abgeschabt war. Er prägte sich mit seinem perfekten Gehör genau den Tonfall ein und lachte bei den Kadenzen, ganz egal, wie oft er es hörte:
     
    Stellen Sie sich vor, Sie haben die Wahl, ob Sie eine schwarze Frau oder eine weiße heiraten, zwei Mädels, gleich alt, gleiches Einkommen... Sie tun alles, was zu so einer Ehe dazugehört – die Küsse und Umarmungen und die heißen Sommernächte in einem schmalen Bett ... fünfzehn Jah-  re ... fünfzehn Jahre lang küssen und umarmen Sie diese schwarze, tiefschwarze Frau, oder Sie küssen und umarmen die weiße, strahlendweiße Frau ... Überlegen Sie es gut, weil nämlich die weiße Frau Kate Smith ist. Ganz recht, »God Bless America«. Und die schwarze ist Lena Horne.
     
    Jonah spielte es mir vor und sprach die letzte Zeile mit. »Kapiert, Kleiner? Eigentlich geht's bei der ganzen Sache überhaupt nicht um Rasse. Es geht darum, wer hässlich ist! Und da sollten wir doch einfach losziehen und alle Hässlichen aufhängen, hm?« Aber nur unter uns gab Jonah diese Nummer zum Besten. Gut dreißig Jahre lang – die zugleich auch dreißig schlechte Jahre waren – erzählte er diesen Witz keinem anderen, nur mir.
    Unten im Village brachte die Musik Fünflinge zur Welt. Aus der heimtückischen Seeburg-Jukebox bei Sammy, aus den Schnipseln, die uns aus dem Radio zuflogen, wenn wir die Met-Übertragung suchten, aus den Klängen, die auf der Straße zu hören waren, erfuhren auch wir es schließlich. Seit Jahren braute sich da etwas zusammen. Und nun plötzlich wollte Jonah es hören. Wir machten uns auf den Weg downtown, hörten uns zwei progressive Jazz-Sets an, die uns beinahe die Ohren wegpusteten, und kehrten nach Hause zurück. Jonah tat, als ginge ihn das alles nichts an. Aber im nächsten Monat wollte er wieder hin.
    Wir entwickelten eine Routine, bei der wir alle zwei Wochen einen der angesehenen Clubs besuchten. Ich war eigentlich zu jung für den Eintritt, aber die Türsteher kannten den hungrigen Musikerblick und drückten ein Auge zu. Eine Woche ging es ins Village Gate, die nächste ins Vanguard. Die Größen des Jazz versammelten sich im Gate, die Fol–kies trafen sich gegenüber im Bitter End: zwei verschworene Gemeinschaften, die nichts verband außer der Straße dazwischen. Den unglaublich intensiven Vanguard–Sound gab es schon seit Jahren, die Blueswelle war

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