Der Klang der Zeit
umfing uns. Unsere Geräusche gingen unter in den gleichgültigen Überlebensschreien auf der Straße vor unserem Fenster. Manch-mal klopften Nachbarn an die Wände oder schlugen an die Tür, weil sie es nicht mehr aushielten. Dann übten wir pianissimo. Länger als das Metronom zu sagen vermochte, waren wir ganz und gar aus der Welt.
Jonah war besessen von der Idee des Stimmansatzes, den verschwindend geringen Unterschieden, die unser winziger gemieteter Raum hörbar machte. Wir glätteten die Kanten an den äußersten Enden seines Stimmumfangs. Wir unterhielten uns in Tonfolgen, formten, variierten und imitierten. Vor meinen Augen erlangten Jonahs hohe Noten eine Wendigkeit, die es mit der Präzision meiner Tasten aufnehmen konnte.
Wir waren zu jung für einen solchen Alleingang. In jeglicher Hinsicht bestens ausgebildet, waren wir doch ganz und gar unwissend. Große Sänger singen ihr Leben lang und brauchen trotzdem einen Lehrer, der sie anhört und führt. Aber Jonah, der kaum je vor Publikum aufgetreten war, bereitete sich auf den ersten wichtigen Wettbewerb seines Lebens vor und hatte niemanden, der ihn korrigierte, niemanden außer mir.
Wir gingen uns gegenseitig auf die Nerven. Ich sollte sein schärfster Kritiker sein, aber sobald ich etwas an ihm auszusetzen hatte, zischte er. »Hör sich bloß einer den Klavierspieler an!« Drei Tage daraufmachte er genau das, was ich ihm vorgeschlagen hatte, so als sei es ihm gerade erst eingefallen. Wenn mir ein Patzer unterlief oder mir eine Passage nicht gleich gelang, zeigte er mit einer solchen Leidensmiene Nachsicht, dass sich mir schon bei der kleinsten punktierten Note alles zusammenzog.
Manchmal brachte ich keine vier geraden Noten zustande. Aber hin und wieder wurde mein Spiel auch zum Spiegelbild seiner eigenen Interpretation, oder es brachte eine innere Bewegung zum Ausdruck, die er noch nie zuvor gehört hatte. Dann trat Jonah hinter mich, legte mir mit einem atemberaubenden Würgegriff den Arm um die Schultern und sagte: »Wer außer dir, Bruder? Wer könnte mir all das geben, was du mir gibst?«
Die Stunden vergingen, eine endlose, unbewegte Fläche. An manchen Tagen kam es uns vor, als seien Wochen verstrichen, ehe die Dunkelheit uns auf den Heimweg schickte. Andere Tage verschwanden binnen einer halben Stunde. Abends, wenn wir beide noch ganz benommen waren vor Erschöpfung, gab Jonah sich gesprächig. »Schau dir uns beide an, Joseph. Da sitzen wir nun also auf unseren vierzig Morgen. Die beiden Mulis sind frei.«
Wir waren nicht die Einzigen, die sangen. Nur die Einzigen, die es hinter verschlossenen Türen taten, ohne Publikum. Von allen Seiten stürmten Melodien auf uns ein, auf unseren Erlkönig und unseren Dowland. Don't forget who's walking you home. Who's coming for you, now, when you're all alone. Soft and dear like moonlight through the pines. Just an old and sweet song keeps Georgia on my mind. Darlin ' please. Only you. Something you know, and something you do. Come on, baby, let's do the twist. Take me by my little hand and go like this. Takes more than a robin to make the winter go. You got what it takes, Lord don't I know. Come on, baby, now, I'm needing you. Just an old sweet song, the whole night through.
Ich hörte diese Musik insgeheim, sogar wenn Jonah seine bodenlosen Luftsäulen balancierte. Jede Note, die in unsere Wohnung drang, zeigte, was wir in Wirklichkeit waren: Ein ausgestorbener, flugunfähiger Vogel oder das lebende Fossil, das man vor Madagaskar aus den Tiefen des Ozeans gezogen hatte. Pa hatte uns eingeschärft, dass das Versiche-rungsgeld alles war, was wir hatten, danach gab es nichts mehr. Genau wie die Zeit floss auch das Geld nur in eine Richtung: fort. Wenn wir bei diesem Wettbewerb auf die Nase fielen, war es aus mit uns. Wenn wir am Ende mit leeren Händen dastanden, würden wir merken, dass andere den Ton angaben. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing, davon würden auch wir dann ein Liedlein singen können.
Unsere Träume waren verrückter als die wildesten Hirngespinste der Jugend, wir waren schlimmer als jeder Zehnjährige, der auf einem Trümmergrundstück hinter dem abbruchreifen Mietshaus seinen Base-ballschlag übt. Schlimmer als der kindliche Schnulzensänger, der in eine abgesägte Parkuhr singt wie in ein Mikrophon, er selbst der nächste Sam Cooke, seine Freunde die nächsten Drifters oder Platters. Jonah kannte nicht den Unterschied zwischen einem Außenseiter und einem tod-sicheren Tipp.
Weitere Kostenlose Bücher